Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
Verantwortung für das haben, was unmittelbar vor uns liegt. Wenn wir es mit solch langen Handlungsketten zu tun haben und an deren Ende stehen, haben wir auch Verantwortung dafür, uns zu informieren, wo die Kette anfängt. Wir haben die Verantwortung, das wieder in den Fokus unserer Aufmerksamkeit zu bringen, was genau deshalb systematisch unseren Blicken entzogen wird, weil wir sonst protestieren würden. Das gilt für Massenställe und Megaschlachthöfe ebenso wie für die Arbeitsbedingungen in den Textilfabriken oder den Rohstoffminen in weit entfernten Ländern.
Letztlich sind diese Unsichtbarkeiten und blinden Flecken oft unserer eigenen Inkonsistenz geschuldet: Wir sind «zivilisiert» genug, um nicht zu wollen, dass andere Menschen und Tiere für die Produktion unserer Waren bluten. Doch die Produkte wollen wir haben! Also kommt uns der Markt entgegen, indem er das vor uns verbirgt, was wir nicht sehen wollen, damit wir kaufen, was er verkaufen will und wir konsumieren wollen. Zugespitzt gesagt: Wer sich die grausamen Bilder aus den Mastställen anschaut, weiß genau,warum er oder sie keine Tiere mehr essen mag/kann/will; doch wer darauf besteht, Tiere zu essen, weiß genau, warum er sich die Bilder lieber nicht anschaut …
Eine neue Form des Zusammenlebens
Nun lässt sich das menschliche Leben nicht von jeder Widersprüchlichkeit bereinigen; wir können keine Heiligen werden, und unsere guten Absichten werden der Realität immer voraus sein. Einige Ungerechtigkeiten allerdings können und sollten wir zurücknehmen. Ich möchte den Leser, die Leserin nun nicht mit einer politischen To-Do-Liste behelligen, doch es dürfte auf der Hand liegen, dass ich einige Hoffnung in den ethisch begründeten Veganismus setze; einen, dessen Ablehnung tierischer Produkte also nicht von Lifestyle-Erwägungen, sondern primär von der Sorge um das Wohl und die Rechte der Tiere motiviert ist.
In diesem Zusammenhang möchte ich zwei naheliegende Missverständnisse ansprechen. Das erste lautet, Veganismus bestehe vorrangig in einem Verzicht. Dabei wird oft übersehen, welchen Gewinn wir durch eine Änderung unserer Konsumweise haben, einen Gewinn insbesondere an Selbstbestimmung, an Autonomie, also an genau der Freiheit, deren Wertschätzung uns vor vielen anderen Tieren auszeichnet und die uns doch angeblich so wichtig ist.
Schon seit Jahren lassen sich Fleisch- und Eieresser von einem Lebensmittelskandal zum nächsten vor sich her treiben, wechseln mal aus Protest zu dieser, dann wieder zu jener Marke – und wissen doch: an der einzelnen Marke liegt es nicht. Der Fehler liegt im System. Und wenn man nicht nur auf Schreckensmeldungen reagiert, sondern vorausschauende, bewusste Konsumentscheidungen trifft, ist es ermutigend zu erleben, dass man auch in einer ziemlich entfremdeten Welt doch einiges Relevante frei entscheidenkann. Ich muss nicht alles kaufen, was mir die Supermarktregale anbieten; ich brauche nicht alles, was mir die Werbung anpreist. Wir leben zwar in einer stark arbeitsteiligen, sehr verflochtenen Welt mit einer geradezu undurchschaubaren und teils ziemlich gruseligen Wirtschaft; aber wir können auch einen Teil der Verantwortung, die wir in der «langen Kette» der Nahrungsmittelproduktion abgegeben haben, wieder für uns reklamieren. Zumal die meisten veganen Lebensmittel nicht annähernd so kompliziert hergestellt und industriell produziert sind; den meisten von ihnen sieht man – anders als dem Hackfleisch, der Wurst, der Lasagne – an, woraus sie bestehen. Eine Aubergine ist eine Aubergine. Das Zeug auf der Salamipizza kann alles sein.
Es fühlt sich gut an, die Komplizenschaft mit diesem System von Tierausbeutung zumindest weitgehend hinter sich zu lassen: das vage schlechte Gewissen, weil man weiß, dass die niedrigen Fleischpreise irgendwo ihre Ursache haben; die Beklemmung, wenn Bilder aus Massentierhaltung im Fernsehen kommen; die Ahnung, dass man gewisse Dinge nicht ganz zu Ende denkt, die aber buchstäblich im eigenen Kühlschrank enden. Ich finde auch nicht, dass Konsumboykotte oder Konsumentenkritik nur kleinteilige Politik sind, vernachlässigbar im Vergleich zu der gesetzgebenden Politik der Parteien und Parlamente – zumal sich das eine und das andere nicht ausschließen. Einem altmodischen Vorurteil gemäß sind Konsumboykotte irgendwie «nicht politisch genug». Ich sehe es anders: Kritische Konsumenten erkennen, dass der Markt zu einem großen Teil unser Leben bestimmt und dass das
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