Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
was derzeit normal ist. Auch die Abschaffung der Sklaverei bedeutete einmal einen gesellschaftlichen Einschnitt und wirtschaftlichen Verzicht. Heute würde kaum jemand sagen, es sei schade, dass Sklavenhaltung nicht mehr erlaubt sei, «denn praktisch wäre das schon». Wenn man zum Beispiel immer einen Sklaven zur Hand hätte, der einem frische Luft zuwedelt. Oder wenn man seine Ehefrau ungestraft misshandeln könnte. Als 1997 der Straftatbestand der Vergewaltigung in der Ehe gesetzlich verankert wurde, wandten etliche Parlamentarier allen Ernstes ein, dies könne die Eheleute einander entfremden: nicht etwa die Vergewaltigung, sondern die Möglichkeit, dass eine Frau ihren Mann deswegen anzeigen könne! Bis sage und schreibe 1977 waren Frauen in der Bundesrepublik Deutschland auf das Einverständnis ihrer Ehemänner angewiesen, wenn sie berufstätig sein wollten. Man kann sich das nur noch schwer vorstellen.
Was jetzt als normal gilt, kann sich morgen schon ändern. Oder übermorgen. Vielleicht auch nie. Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass sich der Speziesismus leicht überwinden lässt und sich die Idee von Tierrechten bald durchsetzen wird; andererseits stehen auch das Erreichen des Weltfriedens oder die Abschaffung der Folter in den Sternen. Na und? Es ist trotzdem falsch zu töten und zu misshandeln, und es lohnt sich trotzdem, sich zu engagieren.
Ein zweites Missverständnis ist hoffentlich gar nicht erst entstanden: Weder bei der Tierethik noch beim ethischen Veganismus geht es allein ums Essen. Das Pro oder Contra Fleisch steht oft im Vordergrund, einfach weil zahlenmäßig so viele Tiere davon betroffen sind. Doch das eigentliche Vorhaben ist viel umfassender: eine ganze Denkweise und gesellschaftliche Sichtweise herauszufordern und zu verändern, nach der der Mensch vermeintlich sämtliche Verfügungsgewalt über alle Mitlebewesen besitzt. Das ist gleichzeitigeine viel forderndere Perspektive – und eine viel verlockendere! Es geht darum, ein neues Zusammenleben mit den anderen Spezies zu ermöglichen. Und die Hoffnung lautet, dass da, wo man alte Formen des Unrechttuns weglässt, neue Formen eines besseren Miteinanders von Menschen und Tieren entstehen.
Der bereits erwähnte Biologe Josef Reichholf, der an anderer Stelle die vermeintliche Unsitte des Tierfütterns im Park verteidigt, stellt auch klar: Oft müssen wir gar nicht füttern. Es reicht, wenn wir nicht schießen. Wenn wir stehen bleiben und beobachten: «Die Vertrautheit sehr vieler Tiere in der Stadt gibt uns diese [erwünschte] Nähe … Es muss gar nicht die Fütterung sein, an die sich zuerst hungrige, dann faul gewordene Tiere gewöhnt haben, um Lebendiges ‹hautnah› erleben zu können. Kauz und Säger, Reiher und Kaninchen sind gute Beispiele für das Vertrautwerden scheuer Tiere, wenn die Verfolgung eingestellt wird. Der Mensch braucht nicht als Futter spendender Wohltäter aufzutreten, um akzeptiert zu werden. Es reicht, wenn er die Tiere so sein und so leben lässt, wie sie sind. Dann werden sie ganz von selbst vertraut.»[ 57 ]
Etwas Ähnliches beobachte ich gerade auf der Schafsweide ungefähr fünfzig Meter vor meinem Arbeitszimmerfenster. Eine Hirschkuh hat ihr Kälbchen offenbar irgendwo zwischen den hohen Binsenbüscheln geboren und verbringt jeden Tag etliche Stunden dort. Allein wie genau die Tiere des Waldes wissen, wann Jagdzeit ist und wann Schonzeit, ist beeindruckend; auch wissen sie, welche Gebiete bejagt werden und welche nicht. Da, wo sie sicher sind, kehren sie zu einer tagaktiven Lebensweise zurück. Anfangs habe ich mich geduckt, wenn ich die Hirschkuh sah, ich wollte sie nicht vertreiben. Inzwischen bleibe ich auf der Terrasse sitzen und frühstücke weiter. Anscheinend macht ihr das gar nichts aus. Zwei Mal hat sie ihr Kalb auf die offene Wiese geführt, als ich anwesend war, und einmal sah ich das Kalbsogar saugen. Es sind rührende Momente: die Fürsorge dieser Tiermutter zu sehen – und dass sie ihre Angst vor mir abgelegt hat. Wie sie das mit den Schafen «geregelt» hat, die diese Weide ebenfalls nutzen, ist mir allerdings nicht klar; und obwohl ich inzwischen ständig Ausschau halte und fast mehr Zeit auf der Terrasse verbringe als am Schreibtisch, werde ich das wohl leider nicht herausfinden.
Hirschkuh und -kalb sind wild lebende Tiere, die Schafe domestiziert und immerhin teilweise streichelzahm; dazu die Katzen, enge Gefährten und Mitbewohner in den Häusern der Menschen: Sie verkörpern drei
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