Arthur & George
wie schroff sein jugendliches Urteil war; vielleicht hat ihn das Alter oder auch der Ruhm versöhnlicher gestimmt. Oder liegt es daran, dass er sich bisweilen selbst wie am Rande eines Nervenzusammenbruchs fühlt, dass es ihm dann nur allzu menschlich und normal erscheint, am Rande eines Nervenzusammenbruchs zu stehen, und dass nur schieres Glück oder eine Eigenart des Geblüts einen Menschen vor dem Fall bewahren können? Hätte er nicht das Blut seiner Mutter in den Adern, würde er womöglich denselben Weg gehen wie Charles Doyle, wäre ihn womöglich bereits gegangen. Und nun erkennt Arthur zum ersten Mal: Die Mama hat ihren Mann nie kritisiert, weder vor noch nach seinem Tod. Das war auch nicht nötig, könnte man meinen. Aber dennoch: Von ihr, die nie einen Hehl aus ihren Ansichten macht, hat man noch nie ein schlechtes Wort über den Mann gehört, der ihr so viel Unannehmlichkeiten und Leid beschert hat.
Bei Arthurs Ankunft in Ingleton ist es noch hell. Am frühen Abend steigen sie durch Bryan Wallers Wald hinauf und treten ins Moor hinaus, wobei sie freundlich ein paar wilde Ponys auseinandertreiben. Der große, aufrechte, in Tweed gekleidete Sohn spricht hinunter zu dem roten Mantel und der adretten weißen Haube seiner Mutter, die nie aus dem Tritt kommt. Ab und zu liest sie Zweige fürs Feuer auf. Ihn ärgert diese Angewohnheit von ihr – als könnte er es sich nicht leisten, ihr einen Klafter des besten Feuerholzes zu kaufen, wann immer sie es braucht.
»Weißt du«, sagt er, »hier ist ein Pfad, und dort drüben liegt der Ingleborough, und wir wissen, wenn wir auf den Ingleborough steigen, können wir nach Morecambe hinüberschauen. Und da sind Flüsse, deren Lauf wir folgen können, und sie fließen immer in dieselbe Richtung.«
Die Mama weiß nicht, was sie von diesen topographischen Plattitüden halten soll. Sie sehen Arthur so gar nicht ähnlich.
»Und falls wir den Pfad verfehlen und uns in den Hügeln verirren, können wir einen Kompass und eine Landkarte zu Hilfe nehmen, was beides leicht erhältlich ist. Und selbst in der Nacht haben wir noch die Sterne.«
»Das ist alles wahr, Arthur.«
»Nein, es ist banal. Es ist nicht der Rede wert.«
»Dann sage mir, was du sagen willst.«
»Du hast mich großgezogen«, antwortet er. »Kein Sohn war seiner Mutter je zärtlicher ergeben. Das soll kein Selbstlob sein, nur die Feststellung einer Tatsache. Du hast mich geprägt, du hast mir gezeigt, wer ich bin, du hast mir meinen Stolz gegeben und alles, was ich an moralischen Fähigkeiten besitze. Und noch immer ist kein Sohn seiner Mutter zärtlicher ergeben als ich.
Ich bin in einem Kreis von Schwestern aufgewachsen. Annette, die liebe, arme Annette, möge sie in Frieden ruhen. Lottie, Connie, Ida, Dodo. Ich liebe sie alle, jede auf ihre Weise. Ich kenne sie durch und durch. Als junger Mann war mir weibliche Gesellschaft nicht fremd. Ich habe mich nicht erniedrigt, wie es so viele andere taten, aber ich war weder ignorant noch prüde.
Und dennoch … und dennoch habe ich jetzt den Eindruck, dass Frauen – andere Frauen – so etwas wie ein fernes Land sind. Nur konnte ich mich in fernen Ländern – wie draußen im afrikanischen Veld – immer zurechtfinden. Vielleicht schwatze ich sinnloses Zeug daher.«
Er hält inne. Er braucht eine Antwort. »Wir sind nicht so weit entfernt, Arthur. Wir sind eher so etwas wie eine benachbarte Grafschaft, die du zu erkunden vergessen hast. Und wenn du es tust, weißt du nicht recht, ob sie nun viel höher oder viel niedriger entwickelt ist. O ja, ich weiß, wie manche Männer denken. Und vielleicht ist beides richtig, und vielleicht ist beides falsch. Also sage mir, was du sagen willst.«
»Jean hat Anfälle von Niedergeschlagenheit. Vielleicht ist das nicht die richtige Beschreibung. Es ist körperlich – sie leidet unter Migräne –, aber es ist eher so etwas wie eine moralische Depression. Sie benimmt sich, sie redet, als hätte sie etwas Furchtbares getan. Nie liebe ich sie mehr als in solchen Momenten.« Er will tief Luft holen und etwas von Yorkshire einatmen, doch es klingt eher wie ein tiefer Seufzer. »Und dann verfalle ich selbst in schwarze Gedanken, aber dafür verachte und verabscheue ich mich nur.«
»Und in solchen Momenten liebt sie dich zweifellos genauso sehr.«
»Ich sage ihr nie etwas davon. Vielleicht kann sie es erraten. Es ist nicht meine Art.«
»Nichts anderes hätte ich erwartet.«
»Manchmal denke ich, ich werde
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