Arthur & George
unschuldig.«
»Und was ist mit Jesus Christus?«
Ach, du lieber Himmel, dachte Anson. Ich bin doch auch kein Pontius Pilatus. »Nun, vom rein juristischen Standpunkt aus«, sagte er in dem nachsichtigen Ton einer Plauderei nach Tisch, »könnte man argumentieren, unser Herr Jesus habe seine Ankläger selbst mit auf den Plan gerufen.«
Nun hatte Doyle seinerseits den Eindruck, sie kämen vom eigentlichen Thema ab.
»Dann möchte ich Sie fragen: Wie ist es Ihrer Meinung nach wirklich gewesen?«
Anson lachte ein wenig zu offenherzig. »Das ist, fürchte ich, eine Frage aus der Kriminalliteratur. Es ist das, wonach Ihre Leser verlangen und womit Sie sie so charmant versorgen. Sag uns, wie es wirklich war .
Die meisten Verbrechen, Doyle – ja, fast alle Verbrechen – geschehen ohne Zeugen. Der Einbrecher wartet, bis das Haus leer ist. Der Mörder wartet, bis sein Opfer allein ist. Der Mann, der das Pferd aufschlitzt, wartet den Schutz der Dunkelheit ab. Wenn es einen Zeugen gibt, ist das oft ein Komplize, ein weiterer Verbrecher. Ein ertappter Verbrecher lügt. Immer. Man trennt zwei Komplizen voneinander, und sie erzählen jeweils andere Lügen. Lässt sich einer davon überreden, als Kronzeuge aufzutreten, erzählt er wieder neue Lügen. Wir könnten sämtliche Kräfte der Staffordshire Constabulary auf einen Fall ansetzen und würden trotzdem nie erfahren, wie es wirklich war , um Ihre Worte zu gebrauchen. Das ist jetzt kein Beitrag zu einer philosophischen Debatte, ich spreche als Mann der Praxis. Was wir wissen, was wir am Ende unserer Bemühungen wissen können, ist – ausreichend, um einen Schuldspruch herbeizuführen. Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen Vorträge über die wirkliche Welt halte.«
Doyle fragte sich, ob er bis in alle Ewigkeit für seine Erfindung des Sherlock Holmes würde büßen müssen. Korrekturen, Ratschläge, Belehrungen, gönnerhafte Bemerkungen – wann würde das je ein Ende nehmen? Er durfte dennoch nicht nachlassen. Er musste seine Ruhe bewahren, und wenn man ihn noch so provozierte.
»Doch lassen wir all das einmal beiseite, Anson. Und finden wir uns damit ab – denn das müssen wir wohl –, dass wir uns hier und heute wahrscheinlich kein Jota und keinen Deut von unserem jeweiligen Standpunkt abbringen werden. Ich frage Sie: Sie glauben, ein ehrbarer junger Solicitor, der zuvor keinerlei gewalttätige Neigungen erkennen ließ, sei eines Nachts plötzlich hingegangen und in niederträchtiger und gewalttätiger Manier über ein Grubenpony hergefallen. Ich frage Sie ganz einfach – warum?«
Anson stöhnte innerlich auf. Das Motiv. Was geht im Kopf eines Verbrechers vor. Jetzt kommt das wieder. Er stand auf und schenkte Brandy nach.
»Sie werden doch für Ihre Phantasie bezahlt, Doyle.«
»Aber ich halte ihn für unschuldig. Und ich sehe die Dinge nun mal anders als Sie. Sie stehen hier nicht im Zeugenstand. Wir sind zwei englische Gentlemen, die bei gutem Brandy und, wenn ich das sagen darf, noch besseren Zigarren in einem schönen Haus im Herzen dieses prachtvollen Landes beisammensitzen. Alles, was Sie sagen, bleibt innerhalb dieser vier Wände, darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Ich frage nichts als: Ihrer Meinung nach – warum?«
»Also gut. Beginnen wir mit den erwiesenen Tatsachen. Der Fall der Elizabeth Foster, des Hausmädchens. Mit dem, wie Sie behaupten, alles begann. Natürlich haben wir uns den Fall angesehen, aber die Beweise reichten für ein Verfahren einfach nicht aus.«
Doyle sah den Chief Constable verblüfft an. »Das verstehe ich nicht. Es gab doch ein Verfahren. Sie hat sich schuldig bekannt.«
»Das wurde privat betrieben – durch den Pfarrer. Und dann haben Anwälte das Mädchen derart eingeschüchtert, dass es sich schuldig bekannte. Mit so etwas macht man sich bei seiner Gemeinde nicht gerade beliebt.«
»Das heißt, die Polizei hat die Familie schon damals nicht unterstützt?«
»Doyle, wenn wir Beweise haben, leiten wir auch ein Verfahren ein. Wie wir es getan haben, als der Solicitor selbst Opfer eines Überfalls wurde. Aha, das hat er Ihnen offenbar nicht erzählt.«
»Er will kein Mitleid erregen.«
»Das tut nichts zur Sache.« Anson nahm ein Blatt aus seiner Mappe. »November 1900 . Tätlicher Angriff durch zwei Jugendliche aus Wyrley. Stießen ihn in Landywood durch eine Hecke, und einer von beiden beschädigte zudem noch Edaljis Regenschirm. Beide bekannten sich schuldig. Verurteilt zu einer Geldstrafe und Zahlung der Prozesskosten.
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