Arthur & George
gesehen. Nicht einmal mit einem Dienstmädchen.«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie ihn so dicht beschatten ließen.«
»Sport treibt er auch nicht. Ist Ihnen das aufgefallen? Die großen Sportarten englischer Männer – Cricket, Fußball, Golf, Tennis, Boxen – sind ihm alle vollkommen fremd. Bogenschießen auch«, fügte der Chief Constable hinzu, und dann noch: »Und Gymnastik.«
»Sie erwarten, dass ein Mann mit einer Kurzsichtigkeit von acht Dioptrien in den Boxring steigt, sonst stecken Sie ihn ins Gefängnis?«
»Ah, seine Sehkraft, die alles erklärt.« Anson merkte, dass Doyle immer mehr in Wut geriet, und setzte alles daran, sie weiter zu schüren. »Ja, ein armer, einsamer Bücherwurm mit hervorquellenden Augen.«
»Und?«
»Sie sind doch ausgebildeter Ophthalmologe?«
»Ich hatte für eine kurze Zeit eine Praxis am Devonshire Place.«
»Sind Ihnen dort viele Fälle von Exophthalmus begegnet?«
»Nicht sehr viele. Ehrlich gesagt hatte ich nur wenige Patienten. Sie waren so seltene Gäste, dass ich mich dort dem Verfassen literarischer Werke widmen konnte. So erwies sich ihr Ausbleiben letztendlich als unverhofftes Glück.«
Anson bemerkte die rituelle Selbstzufriedenheit dieser Darstellung, sprach aber ungerührt weiter. »Und was verbindet sich für Sie mit einem Exophthalmus?«
»Er tritt manchmal als Folge eines Keuchhustens auf. Und natürlich als Nebenwirkung des Strangulierens.«
»Ein Exophthalmus wird gemeinhin mit einem ungesunden Ausmaß sexueller Begierde in Verbindung gebracht.«
»So ein Blödsinn!«
»Ihre Patienten am Devonshire Place, Sir Arthur, waren zweifellos allesamt viel zu feine Leute.«
»Das ist absurd.« Hatten sie sich jetzt auf das Niveau von Volksweisheiten und Ammenmärchen begeben? War das eines Chief Constable würdig?
»So etwas würde natürlich nicht als Beweis vorgebracht werden. Es ist aber eine allgemeine Beobachtung derer, die mit einer gewissen Verbrecherschicht Umgang haben.«
»Es ist trotzdem Blödsinn.«
»Wie Sie wollen. Des Weiteren müssen wir die merkwürdigen Schlafarrangements im Pfarrhaus in Betracht ziehen.«
»Die ein absoluter Beweis für die Unschuld des jungen Mannes sind.«
»Wir waren uns einig, dass wir uns hier und heute um kein Jota und keinen Deut von unserem jeweiligen Standpunkt abbringen werden. Aber dennoch, betrachten wir einmal diese Schlafarrangements. Der Junge ist – wie alt? zehn? –, als seine kleine Schwester erkrankt. Von dem Moment an schlafen Mutter und Tochter im selben Raum, während Vater und älterer Sohn ebenfalls ein Schlafzimmer miteinander teilen. Horace, der Glückliche, hat ein eigenes Zimmer.«
»Wollen Sie andeuten – wollen Sie damit andeuten, in diesem Zimmer sei etwas Schändliches vorgefallen?« Worauf um alles in der Welt wollte Anson hinaus? War er vollkommen übergeschnappt?
»Nein, Doyle. Im Gegenteil. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass in diesem Zimmer absolut nichts vorgefallen ist. Hier fand nichts statt außer Schlaf und Gebeten. Nichts ist vorgefallen. Nichts. Der Hund hat nichts getan, wenn Sie mir die Anspielung verzeihen.«
»Also …?«
»Wie gesagt, es liegt alles klar und deutlich vor Ihnen. Ein Junge schläft von seinem zehnten Lebensjahr an im selben verschlossenen Zimmer wie sein Vater. Die ganze Pubertät hindurch und bis ins frühe Mannesalter, Nacht um Nacht. Sein Bruder zieht aus – und was geschieht? Erbt er das Schlafzimmer seines Bruders? Nein, dieses eigentümliche Arrangement bleibt bestehen. Er ist ein einsamer Junge und dann ein einsamer junger Mann von groteskem Äußeren. Man sieht ihn nie in Gesellschaft des anderen Geschlechts. Wir dürfen jedoch annehmen, dass er normale Triebe und Gelüste hat. Und wenn wir, Ihrer Skepsis zum Trotz, dem Beweis des Exophthalmus Glauben schenken, war er von stärkeren Trieben und Gelüsten beherrscht als gemeinhin üblich. Wir sind Männer, Doyle, die diesen Aspekt verstehen. Wir kennen die Anfechtungen der Pubertät und des frühen Mannesalters. Die oft nur die Wahl lassen zwischen der Hingabe an eine Sinnlichkeit, die zu moralischem und körperlichem Verfall, ja zu kriminellem Verhalten führt, und der gesunden Ablenkung von niederen Trieben durch männlich-sportliche Betätigung. Der erste Weg war Edalji durch die Umstände zum Glück versperrt, und auf die andere Art wollte er sich nicht ablenken. Ich gebe zwar zu, dass Boxen wohl kaum seine Stärke gewesen wäre, doch es gab ja beispielsweise auch Gymnastik
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