Arthur & George
Ausbruch mütterlichen Stolzes weiter Vorschub. Er fragte, ob sie dem noch etwas hinzufügen wolle.
»Ja, gern.« Mrs Edalji sah ihren Sohn auf der Anklagebank an. »Er war stets gut und gehorsam und von Kind auf immer gut zu jedem stummen Geschöpf. Er wäre nicht fähig, ein Tier zu verletzen oder zu verstümmeln, selbst wenn wir nicht wüssten, dass er das Haus nicht verlassen hat.«
Mr Disturnal dankte ihr so, dass man fast hätte meinen können, er sei selbst ein Sohn von ihr; und zwar ein Sohn, der seiner alten, weißhaarigen Mutter ihre blinde Gutmütigkeit und Arglosigkeit gerne nachsah.
Als Nächste wurde Maud aufgerufen, um den Zustand von Georges Kleidung aus ihrer Sicht zu schildern. Sie sprach mit fester Stimme und machte klare Angaben; dennoch war George starr vor Angst, als Mr Disturnal sich unter fortwährendem Nicken erhob.
»Ihre Aussage, Miss Edalji, gleicht der Ihrer Eltern bis aufs i-Tüpfelchen.«
Maud hielt seinem Blick ruhig stand und wartete ab, ob das eine Frage war oder die Einleitung zu einem vernichtenden Schlag. Daraufhin nahm Mr Disturnal mit einem Seufzer wieder Platz.
Später saß George erschöpft und niedergeschlagen an dem rohen Holztisch im Keller. »Mr Meek, ich fürchte, meine Eltern waren keine guten Zeugen.«
»Das würde ich nicht sagen, Mr Edalji. Es ist eher so, dass die besten Menschen nicht unbedingt die besten Zeugen sind. Je gewissenhafter sie sind, je ehrlicher, je länger sie über jedes Wort der Frage nachdenken und aus Bescheidenheit an sich selbst zweifeln, desto leichter kann ein Ankläger wie Mr Disturnal sein Spiel mit ihnen treiben. Ich versichere Ihnen, das geschah hier nicht zum ersten Mal. Wie soll ich mich ausdrücken? Es ist eine Frage des Glaubens. Was wir glauben, warum wir es glauben. Vom rein juristischen Standpunkt aus sind die besten Zeugen die, denen die Geschworenen am meisten Glauben schenken.«
»Genau genommen waren sie schlechte Zeugen.« Während des gesamten Prozesses war es nicht nur Georges Hoffnung, sondern seine sichere Überzeugung gewesen, dass die Aussage seines Vaters ihn auf der Stelle entlasten werde. Der Angriff des Vertreters der Anklage werde am Felsen der väterlichen Integrität zerschellen, und Mr Disturnal werde dastehen wie ein irregeleitetes Schäfchen aus seiner Gemeinde, das einen Verweis wegen grundloser Verleumdung einstecken musste. Doch der Angriff war gar nicht erfolgt, oder zumindest nicht in der Form, die George erwartet hatte; und sein Vater hatte ihn enttäuscht, da er sich nicht als olympische Gottheit erwiesen hatte, deren heiliger Eid durch nichts zu widerlegen war. Stattdessen hatte er den Eindruck eines reizbaren und zeitweise verwirrten Pedanten gemacht. George hatte dem Gericht verständlich machen wollen, dass sein Vater ihn, wenn er sich als Kind auch nur das geringste Vergehen hätte zuschulden kommen lassen, auf die Polizeiwache geschleppt und eine exemplarische Bestrafung verlangt hätte: Je höher die Pflicht, desto größer die Sünde. Stattdessen hatte sich der gegenteilige Eindruck ergeben: dass seine Eltern nachsichtige Trottel waren, die man leicht hinters Licht führen konnte. »Sie waren schlechte Zeugen«, wiederholte er düster.
»Sie haben die Wahrheit gesagt«, antwortete Mr Meek. »Und etwas anderes oder etwas, das nicht ihrem Wesen entsprach, hätten wir auch nicht erwarten sollen. Wir sollten darauf vertrauen, dass die Geschworenen das erkennen. Mr Vachell sieht dem morgigen Tag voller Zuversicht entgegen, und auch wir müssen zuversichtlich sein.«
Als George am nächsten Morgen zum letzten Mal aus dem Gefängnis von Stafford nach Shire Hall gebracht wurde, als er sich darauf einstellte, seine Geschichte in ihrer endgültigen, immer wieder veränderten Form dargelegt zu bekommen, war er wieder guten Mutes. Es war Freitag, der 23 . Oktober. Morgen würde er im Pfarrhaus zurück sein. Am Sonntag würde er wieder unter dem gewölbten Dach von St. Mark’s seine Andacht verrichten. Und am Montag würde ihn der 7 : 39 – Zug in die Newhall Street bringen, an seinen Schreibtisch, zu seiner Arbeit, seinen Büchern. Er würde seine Freiheit mit einem Abonnement von Halsbury’s Laws of England feiern.
Als er von der schmalen Treppe auf die Anklagebank hinaustrat, schien der Gerichtssaal noch voller zu sein als an früheren Tagen. Die Erregung war deutlich zu spüren und für George erschreckend: Das wirkte nicht wie das würdevolle Warten auf Gerechtigkeit, sondern eher wie die
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