Artikel 5
Zweitnamen reagieren würde. Überall brüllten, schubsten, drängelten nun die Leute um mich herum. Strebten sie immer noch auf den toten Mann zu? Oder auf etwas anderes? Chase antwortete nicht.
»Jacob!« Es war, als brüllte ich unter Wasser. Niemand hörte mich. Ein heftiger Schlag auf meinen Rücken schleuderte mich vorwärts in Richtung Betonboden, aber ich prallte von einem anderen Körper ab. Jemand packte meinen Arm und kugelte ihn beinahe aus bei dem Versuch, sich festzuhalten. Ein Meer des Chaos’ umfing mich, zerrte meinen Oberkörper in die eine Richtung, während meine Beine in die andere liefen, und dann war da plötzlich das widerliche, weiche Gefühl von Fleisch und Knochen unter meinen Stiefeln.
»Essen!«, hörte ich jemanden brüllen. »Hierher!«
Um die Suppenküche konnte es nicht gehen, die war auf der anderen Seite des Platzes. Und der tote Mann hatte nichts mehr, das man ihm hätte rauben können. Es konnte nur der Lastwagen gemeint sein, an dem wir vorbeigekommen waren. Ich fragte mich nur, wie sie die Barriere bewaffneter Soldaten durchbrechen wollten.
Als ich endlich wieder Tritt fassen konnte, umklammerte plötzlich eine Hand mit hartem Griff meinen Ellbogen.
»Gott sei Dank!«, rief ich und drehte mich um, um vor mir die Kehrseite eines Mannes mit sauber gestutztem braunem Haar und einem marineblauen Kragen zu sehen, und dieser Mann zerrte mich aus dem Gewühl.
Aber das war nicht Chase. Es war ein Soldat.
»Nicht! Warten Sie, bitte!«, versuchte ich mein Glück und stemmte mich gegen ihn. »Das ist ein Irrtum.«
»Bewegung, Miller«, hörte ich ihn über die Schulter rufen.
Furcht erfasste mich. Dieser Soldat kannte meinen Namen. Sie hatten mich entdeckt. Chase musste fliehen. Sollte er geschnappt werden, wäre er in größerer Gefahr als ich. Und er konnte meine Mutter immer noch erreichen.
Ich brauchte all meine Beherrschung, um nicht aus vollem Hals Chases Namen zu brüllen. Aber ich wusste, würde ich das tun und würde er mir zu Hilfe kommen, so wäre er so gut wie tot.
»Ich bin nicht … ich weiß nicht, wer Miller ist!«, sagte ich und wehrte mich nun mit beiden Händen. Niemand achtete auf mich. Da gab es viel zu viel Tumult. Zu viel Chaos.
»Hilfe!«, brüllte ich schließlich. »Hilfe!«
Aber selbst wenn mich jemand gehört hatte, reagierte doch niemand. Ich krallte die Finger in den Mantel des Soldaten, als dieser mich in eine dunkle Gasse zerrte. Er schüttelte mich ab. Meine Hand verhedderte sich im Haar einer Frau. Sie schlug mir gegen die Schulter, und ich löste die Finger aus ihrem Schopf, nahm dabei aber einige Strähnen mit.
Plötzlich kehrte Stille ein. Es war, als hätten wir ein unsichtbares Kraftfeld durchquert. Der Lärm der Menge auf dem Platz hielt immer noch an, aber in der Gasse herrschte vollkommene Stille, abgesehen von dem Rascheln einiger Ratten, die hastig hinter einem überquellenden Müllcontainer verschwanden. Ich sah ein oder zwei Leute, die uns nachblickten, als ich fortgeschleppt wurde, aber auch wenn sich ihre Augen kurz weiteten, wandten sie den Blick furchtsam gleich wieder ab.
Ich war allein mit dem Soldaten.
Panik ergriff Besitz von mir.
Ich wehrte mich. Mein Haar bildete einen Vorhang, der mir die Sicht versperrte. Ich weigerte mich, auf eigenen Beinen zu stehen, und zwang so den Soldaten, mich zu tragen. Immer wieder sah ich seine Uniform aufblitzen. Die bauschige, marineblaue Hose über den schwarzen Stiefeln. Der Gürtel. Die Waffe . Eine goldene Namensplakette – WAGNER . Die Abenddämmerung war heraufgezogen, und hier im Schatten konnte ich sein Gesicht nicht klar erkennen.
»Stehen bleiben!«, befahl der Soldat. Ich schluckte meine Angst hinunter und schlug mit der Faust nach seinem Kopf, wohl wissend, dass mich so eine Aktion entweder ins Gefängnis oder gleich ins Grab bringen würde.
»Aufhören!« , rief er. »Sieh mich an!«
Mit Schwung rammte er meinen Körper gegen eine Hauswand. Mein Kopf krachte gegen die Mauer. Sämtliche Organe in meinem Leib erbebten, ich keuchte auf und sah nur noch Sterne.
Aber ich gab Ruhe, und da, endlich, sah ich sein Gesicht. Kraftvolle, attraktive Züge. Blaue Augen, aber nicht länger leer. Das war der Soldat, den ich bei dem Lebensmittellaster gesehen hatte. Der, bei dem ich dieses komische Gefühl bekommen hatte.
»Sean?« , rief ich bestürzt. Sean Banks. Kein Wagner. Wer war Wagner?
Mir blieb keine Zeit, ihn zu fragen, denn im nächsten Moment wurden wir zu Boden
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