Artikel 5
herumlungerten, starrten uns einige so neidisch an, als wären wir irgendwelche königlichen Hoheiten. Ihrem Zustand nach nahm ich an, dass Chase mit der möglichen Nahrungsmittelknappheit richtiglag. In dieser großen Stadt gab es offensichtlich nicht genug zu essen.
Wir kamen an einem Obdachlosen vorbei, der sich an einen laut dröhnenden Generator vor einem öffentlichen Waschraum lehnte, an dem ein Schild hing mit der Aufschrift: »Jede Hilfe ist wertvoll«. Der Mann war ausgezehrt. Zerlumpte, fleckige Kleider hingen an seinem hageren Leib. Die Haut seiner Lider war dünn wie Papier, und sein Gesicht war überzogen von den olivfarbenen Flecken des Hungers.
Vor dem Mann blieb Chase stehen, und für einen Moment dachte ich, er würde ihm Geld geben. Solch eine Großzügigkeit machte mir Angst. Würde Chase seine Brieftasche zücken, so würden all diese hungrigen Menschen hinter uns her sein wie ein Rudel Wölfe.
Einen Moment später richtete Chase sich auf, griff erneut nach meiner Hand und zog mich neben sich.
»Bleib dicht bei mir«, sagte er.
Ich erschrak, als ich ein Rascheln hinter uns hörte, und drehte mich um in der Erwartung, mich verteidigen zu müssen – und dann blieb mir der Mund offen stehen. Das Wolfsrudel war tatsächlich aufgetaucht, aber die Wölfe waren nicht hinter uns her, stattdessen kreisten sie den Mann ein. Den halb verhungerten, obdachlosen Mann. Meine Beklemmungen kehrten in zehnfacher Stärke zurück, als mir klar wurde, dass sie vorhatten, ihn auszurauben. Schweiß benetzte meine Handflächen, aber Chase hielt mich eisern fest.
Ein Mann und eine Frau mit eingefallenen Wangen stahlen dem Mann seinen Becher mit Kleingeld und sein Pappschild. Ein anderer nahm seine Schuhe. Wieder ein anderer schnappte sich das schmutzige Sweatshirt. Als es ihm vom Körper gerissen wurde, flatterten zusammengefaltete Statuten durch die Luft. Er hatte seine Kleidung mit Papier unterfüttert, um sich warm zu halten.
Die aschfahle Haut des verknautschten Opfers wurde entblößt. Seine besenstielartigen Glieder nahmen sonderbare, verzerrte Winkel ein, er aber blieb biegsam wie eine Flickenpuppe. Wahrscheinlich hatte ihn jemand bewusstlos geschlagen oder er war einfach zu schwach, sich zu wehren.
»Wir müssen ihm helfen!« Meine Stimme klang schrill vor Pein. So ein Verbrechen durften wir nicht einfach hinnehmen. Wie sollte der Mann ohne die wärmende Kleidung überleben?
»Wir können gar nichts tun. Und wenn wir hierbleiben, sind wir die Nächsten.« Er drängte mich voran.
»Chase!«, rief ich und rammte die Fersen gegen den Boden, konnte ihn aber nicht aufhalten.
»Es ist zu spät«, sagte er in einem stahlharten Ton. Auf einmal wusste ich, was er meinte. Der Mann war tot.
Wie lange hatte er dort gesessen, ohne dass jemand nach ihm gesehen hatte, ohne dass jemand wusste, wie viele Tage vergangen waren, seit er zum letzten Mal etwas gegessen hatte? War es ein Tag? Zwei? Eine Woche ? Wie kalt und fremdartig mir diese Stadt nun erschien, eine Stadt, in der jemand unbemerkt in aller Öffentlichkeit sterben konnte.
Und wo waren die Soldaten jetzt? Wäre es nicht ihre Pflicht gewesen, dem Einhalt zu gebieten?
Die Antwort lag auf der Hand: Nein. Die MM würde gar nichts tun. Sie wollte, dass die Armen und vom Glück Verlassenen sich gegenseitig umbrachten. Umso weniger Arbeit blieb für sie übrig.
Ein Bild von Katelyn Meadows stieg in meinem Geist auf. Was hatten die Wachen in der Reformschule mit ihrem Leichnam gemacht? Hatte man sie zu ihren Eltern zurückgebracht? Lebten ihre Eltern überhaupt noch? Plötzlich kam ich mir schrecklich alt vor, viel älter, als ich war.
Chase zog mich durch das Gewühl. Mir war, als würde ich treiben. Als würden meine Füße kaum mehr den Boden berühren. Ich wollte schlafen und zu Hause in meinem Zimmer aufwachen und meine Mutter nebenan singen hören. Ich wollte zu Beth rübergehen, um Hausaufgaben mit ihr zu machen und über alles und jedes und nichts Wichtiges zu reden. Ich wollte das Unmögliche.
Jemand prallte gegen uns, zweifellos, weil er von jemand anderem gestoßen worden war. Chases Hand löste sich von meiner, und ich wurde zur Seite geschleudert. Aber ich fiel nicht. Da waren viel zu viele Leute, die einen möglichen Sturz durch ihre bloße Präsenz abfingen.
Aber Chase war verschwunden. Von der Menge verschluckt.
Meine Ohren klingelten, und das Blut rauschte durch meine Adern.
»Ch… Jacob!«, schrie ich in der Hoffnung, dass er auf seinen
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