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Artikel 5

Artikel 5

Titel: Artikel 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristen Simmons
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Als ich Rebecca danach fragte, wollte sie nicht recht mit der Sprache heraus. Gruselig , so nannte sie es. Das war alles. Aber ich fürchtete mich.
    In den folgenden Tagen tat ich, was ich konnte, um unverdächtig zu erscheinen. Ich war höflich, wenn man mich zu gesellschaftlichen Interaktionen mit Mitarbeitern und Mitschülerinnen zwang, und ich hielt mich an die Regeln. Ich verbarg meinen Frust und meinen Schmerz, wenn meine plumpen, geschwollenen Hände Dinge fallen ließen oder ich die Finger nicht weit genug schließen konnte, um meinen Stift zu halten. Ich erregte keinerlei Aufmerksamkeit und vermittelte Brock so das Gefühl, sie hätte gewonnen.
    Aber zugleich sammelte ich direkt unter ihrer Nase allerlei Dinge ein, ganz so, wie meine Mutter und ich es während des Krieges in unseren schlimmsten Zeiten getan hatten. Eine Tasse aus der Cafeteria, als gerade niemand hinschaute. Ein Waschlappen aus dem Bad. Und ich fing an, unverderbliche Nahrungsmittel unter meiner Matratze zu lagern, um mich auf meine Flucht vorzubereiten.
    Irgendwann stellte ich fest, dass ich Rebecca vertraute. Zwar spielte sie die Prinzessin der Resozialisierungsanstalt, wann immer andere in der Nähe waren, aber sie hatte offensichtlich einen Weg gefunden, hier drin zu überleben. Ihr Blendwerk gab mir neue Hoffnung.
    Nachts unterhielten wir uns, und sie sprach erstaunlich offen mit mir. Beinahe, als wäre ich ihre Vertraute und nicht die Person, die ihr eine Menge Ärger einbringen konnte, sollte sie ihr Geheimnis aufdecken. Aus ihrem Blickwinkel nahm auch ich Sean in einem neuen Licht wahr. Nun fiel mir auf, dass er Randolph immer wieder von den Mädchen ablenkte und höchst zweckorientiert nickte, wenn Brock wieder über irgendwelche absurden Albernheiten wie die angemessenen Verhaltensweisen einer Schwester im Gespräch mit Männern räsonierte.
    Zu meinem Erschrecken wurde auch ich etwas offener. Ich erzählte Rebecca von Dingen aus dem gemeinsamen Leben mit meiner Mutter, die mir fehlten. Die Nächte, in denen wir Popcorn und alte Vorkriegsmagazine genossen hatten. Die Lieder, die wir gemeinsam gesungen hatten. Dass wir nie wirklich voneinander getrennt gewesen waren. Rebecca mochte diese Geschichten. Ich glaube, sie haben ihr geholfen zu verstehen, warum ich unbedingt fliehen wollte.
    Am fünften Abend erzählte ich ihr sogar von Chase.
    Ich weiß nicht, warum. Vielleicht, weil sie einen Soldaten liebte, vielleicht, weil ich das Gefühl hatte, ich wäre ihr etwas ganz Persönliches aus meinem Leben schuldig. Vielleicht auch, weil nicht eine Stunde verging, in der ich mich nicht fragte, warum er tat, was er tat. Was immer der Grund sein mochte, ich vertraute es ihr an. Keine Details und auch keine Hinweise auf die Tiefe meiner Gefühle für ihn, wohl aber die Grundzüge dessen, was zwischen uns gewesen war.
    »Sie sollen keine Beziehungen eingehen. Nicht, solange sie noch keine Offiziere sind«, erklärte Rebecca mir, als ich ihr erzählte, dass er nie geschrieben hatte. »Sie müssen ihr Leben der Sache oder irgendwas weihen. Das müssen sie unterschreiben, wenn sie einrücken.«
    »Sean scheint das nicht zu kümmern.« Ich konnte nicht verhindern, dass sich ein neidischer Ton in meine Stimme schlich.
    Sie grinste, und mir fiel auf, wie hübsch sie war. »Kannst du ihm das verübeln?«
    Wir brachen beide in Gelächter aus. Es war das erste und einzige Mal, dass wir gemeinsam lachten.
    Elf Tage zogen dahin, ohne dass ich etwas von meiner Mutter hörte.
    Am elften Abend bereitete ich mich auf die Flucht vor.
    »Ich gehe mit dir raus«, sagte Rebecca zum zehnten Mal, während sie ruhelos im Zimmer auf und ab ging. Es war nach Mitternacht, aber sie trug immer noch ihre Uniform.
    »Nein.« Darüber hatten wir bereits gesprochen. »Sean will, dass du hierbleibst.«
    »Mir egal, was er will!« Ihre Stimme wurde immer höher, und sie zerdrückte ihre Bluse zwischen den Händen. »Ich kann nicht einfach nichts tun, während er sein Leben für dich aufs Spiel setzt!«
    Die Anspannung zwischen uns hatte während der letzten Tage unentwegt zugenommen, während die Erkenntnis, dass es bei dem Plan nicht nur um ein Gedankenspiel ging, allmählich Fuß fasste. Unbewusst fuhr ich mit dem Finger über die immer noch geschwollenen Striemen auf meinem Handrücken und ballte vorsichtig die Faust. Die Wunden hatten sich endlich geschlossen und erblühten nun in einer Mischung aus Purpur und Gelb, und sie schmerzten höllisch, besonders in kalten

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