Artikel 5
wie Wogen, die an einen Damm aus Beton schlugen. In diesem Moment war mir sogar egal, ob er verletzt war oder nicht.
Dann sah ich, wie sich etwas an ihm langsam veränderte. Seine Schultern wanderten aufwärts. Die Adern an seinem Hals wölbten sich hervor. Und seine schwarzen Augen wurden ganz schmal. Mehr denn je erinnerte er mich an einen Wolf. Er kam auf mich zu, groß, bedrohlich und düster im Gegenlicht. Ich wich einen Schritt zurück, prallte gegen den Truck und war gezwungen, mich der Panik zu stellen, die sich plötzlich in meiner Brust bemerkbar machte.
»Die wollten dir etwas tun.« Seine Stimme war leise, aber unbeherrscht.
»Und darum ist das in Ordnung?«, konterte ich. Nein, ich wollte nicht, dass man mir etwas tat – ganz bestimmt wollte ich nicht sterben –, aber das war keine Rechtfertigung dafür, jemanden aufgrund bloßer Spekulationen zu ermorden, wie widerlich er auch sein mochte.
Erneutes Donnern zerschmetterte meine Konzentration, und mein Blick huschte zurück zum Maisfeld. War die Frau unterwegs zu uns? Oder kauerte sie immer noch auf dem Boden und weinte um Alice? Es waren nur ein paar Minuten vergangen, aber mir kam es viel länger vor.
»Ja, darum ist es in Ordnung«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, und seine Augen leuchteten auf, als ein Blitz über den Himmel raste. »Tu bloß nicht so, als hättest du nicht das Gleiche getan.«
»Das hätte ich nie.«
» Nie? Nicht einmal, wenn sie deine Mom bedroht hätten?«
Seine Worte bohrten sich durch mein Bewusstsein. Wäre ich Chase gewesen und meine Mutter ich, nichts hätte mich von Rick ablenken können.
Mit erschreckender Klarheit erkannte ich, dass Chase und ich vielleicht doch gar nicht so verschieden waren. Jeder wusste, dass ein in die Enge getriebener Hund zubeißt. Mir war nur nie der Gedanke gekommen, ich könnte dieser Hund sein.
Auf der anderen Seite hatte Chase gerade die Liebe, die ich für meine Mutter empfand, dazu missbraucht, seine Handlungsweise zu rechtfertigen. Als wäre das irgendwie vergleichbar. Das war eine billige Nummer, sogar für ihn.
Eine Weile hatte er mir schweigend beim Denken zugesehen, doch nun konnte er sich nicht länger zurückhalten.
»Wenn du meinst, du wärst allein sicherer, dann bleib. Anderenfalls steig in den Truck .«
Seine Fingerknöchel zeichneten sich weiß unter der Haut ab, als er die Tür ergriff, aber er kam nicht näher. Er würde mich nicht zum Einsteigen zwingen. Er überließ mir die Wahl.
Ich musste mit ihm gehen. Ganz gleich, wie sehr es mir widerstrebte, er hatte recht. Ich musste den Schleuser erwischen, und darum brauchte ich ihn.
Als ich drin war, knallte er die Tür zu, ging um die Kühlerhaube herum und blieb für einen Moment mit der Hand am Griff der Fahrertür stehen, ehe er zu mir ins Führerhaus kletterte. Vielleicht hatte er die gleiche Entscheidung treffen müssen wie ich: sein Leben zu riskieren, um bei mir zu bleiben, oder seiner eigenen Wege zu gehen.
Zunächst herrschte Schweigen. Eine Regenwasserpfütze tränkte den Sitz und schwappte über die Gummimatten am Boden. Meine Schuhe klebten klatschnass an meinen Füßen, und meine Finger waren taub vor Kälte. Chases Hände verschwanden unter dem Armaturenbrett und erweckten den Motor zum Leben. Einen Moment später holperten wir über den Feldweg zurück zur Hauptstraße, verbunden in nervösem, unbehaglichem Schweigen.
Die Uhr des Autoradios zeigte 10:28 vormittags an.
»O nein«, flüsterte ich kläglich. Ich hatte so viel Zeit vergeudet! Wir wären inzwischen schon ganz in der Nähe des Checkpoints, wäre ich nicht weggelaufen. Bald schon würde die MM hinter uns her sein, und wer wusste schon, wie lange der Schleuser am Treffpunkt warten würde.
All das war natürlich auch Chase klar. Ich hatte uns in ernste Gefahr gebracht, und er tat nicht so, als wüsste er das nicht.
Wir passierten einen auf der Seite liegenden Truck. Um eines der oben liegenden Radhäuser hatte sich eine zerrissene Plane gewickelt, die vermutlich von einem Wetterschutz stammte. Nun aber flatterte das Material im Wind wie eine weiße Flagge. Ich wandte den Blick ab und kämpfte gegen die Hoffnungslosigkeit an.
Ich sackte auf meinem Sitz zusammen, streifte meine Jacke ab und wusch mir mit dem Wasser, das sich in der Kapuze gesammelt hatte, das Erbrochene von den Händen. Für das Schmutzwasser schien es keinen besseren Ort als den Boden zu geben, der immer noch patschnass war. Ohne den Schutz der
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