Artikel 5
hin.
»So gehst du wenigstens nicht verloren«, bemerkte er trocken.
Aber ich war verloren. Die Grenzen zwischen Gefahr und Sicherheit verschwammen vor mir.
Ein paar Minuten später schälte sich der Truck aus dem Mais. Der Anblick war eine bittere Erinnerung an meine vergebliche Flucht, und doch empfand ich tiefe Erleichterung.
»Lass mich runter«, sagte ich und wand mich aus seinen Armen. Zwar war ich noch nicht wieder ganz bei Kräften, aber ich brauchte etwas Abstand. Seine Nähe war mir allzu schnell zu einem tröstlichen Schild geworden; ich wusste aber nicht, auf welcher Seite dieser schützenden Barriere ich stehen sollte.
Er hielt inne, als widerstrebte es ihm, mich loszulassen, doch dann setzte er mich abrupt ab. In der Sekunde, in der ich nicht mehr auf seinen Armen lastete, schob er die Hände in die Manteltaschen. Als wir beim Wagen waren, griff er um mich herum und öffnete die Tür. Als müsste ich nur einsteigen. Als könnten wir so tun, als wäre nichts geschehen.
»Bist du in Ordnung?«, fragte er. Die Wut, die über mein Gesicht huschte, entging ihm nicht.
Ich hatte Erbrochenes am Mund und an den Händen. Ich hatte Schlamm und nasses Haar im Gesicht. Von jedem Quadratzentimeter meines Körpers strömte kaltes Wasser herab. Ich war gerade in die Fänge einer Verrückten geraten, als ich versucht hatte, vor einem Burschen zu fliehen, der beinahe einen bewaffneten Räuber umgebracht hätte. Und das war alles heute Morgen passiert. Nein, ich war definitiv nicht »in Ordnung«.
Heftig schlug ich die Tür zu. Überrascht zog er die Brauen hoch.
»Ich wollte weg, du Idiot !«, brüllte ich, um das Prasseln des Regens auf der Haube des Trucks zu übertönen. »Ich habe mich nicht verirrt – nicht einfach so, jedenfalls. Ich bin weggelaufen.«
Die Sekunden zogen dahin. Noch immer wäre ich am liebsten geflohen, aber meine Füße steckten im Schlamm fest. Die Last meiner Worte hing zwischen uns in der Luft, und obgleich ein Teil von mir seine Reaktion fürchtete, bedauerte ich nicht, sie ausgesprochen zu haben. Ich wusste, wozu er fähig war; das Gleiche sollte er über mich auch wissen.
Nach einer scheinbar endlosen Zeit zuckte er mit den Schultern.
»Ich hoffe, du hast gute Schuhe. Zu Fuß ist es ein weiter Weg bis zum Checkpoint.« Er zeigte mit dem ganzen Arm in Richtung Straße. Seine Augen schauten spöttisch, aber da war noch etwas anderes. Beinahe so was wie Furcht, aber das konnte nicht sein. Er hatte keine Angst vor irgendwas.
»Ich … ich kann den Bus nehmen«, stammelte ich und suchte im Maisfeld nach Alices Mutter. Sie hatte einen Wagen hinter ihrem Haus. Was, wenn sie in die Stadt fuhr, um nach mir zu suchen? Der Gedanke schien nicht so albern zu sein, bedachte ich das Ausmaß ihrer Wahnvorstellungen.
»Mit dem Bus ? Du willst zu einer Busstation? Tolle Idee. Pass auf die Soldaten auf, die die Busse durchsuchen. Und auf die Vermisstentafeln. Und auf den Kassierer, der dein U-elf-Formular sehen will. Und …« Sein Ton wurde mit jedem Wort schärfer.
»Ich gebe einen falschen Namen an, und ich habe … Geld«, gab ich zurück.
»Du hast mein Geld. Und vermutlich nicht mehr als die Hälfte von dem, was du brauchen würdest. Wie wäre es, wenn du zurückgehst und deine Freundin bittest, dir den Rest vorzustrecken?«
»Schon gut, ich habe verstanden.«
In diesem Moment hasste ich ihn. Wegen allem, was ich nun wusste. Und allem, was ich nicht wusste.
»Du hast nichts verstanden!«, sagte er in harschem, erbittertem Ton. Seine Lautstärke erschreckte mich, doch überraschenderweise empfand ich keine Furcht. »Andere Orte sind nicht wie daheim! Es gibt keine sicheren Viertel hier draußen. Es gibt keine Türen, die während der Ausgangssperre abgeschlossen werden. Jesus, man hat uns gesagt, Mädchen wie du wären gefährlich, aber bis jetzt habe ich es nicht geglaubt.« Er sah aus, als wollte er sich die Haare raufen. Sollte er es nicht tun, könnte ich es ihm abnehmen.
Ich konnte mir vorstellen, wie er in einem Klassenraum saß, während ein MM -Offizier schlimme Dinge über »Mädchen wie mich« – Mädchen, auf deren Shirts eine scharlachrote Fünf prangte – auf die Tafel schrieb. Der Gedanke, dass er so etwas glauben konnte, brachte mich auf die Palme.
» Ich bin gefährlich? Ich? Du hättest diesen Mann fast umgebracht! Du hättest es getan, hätte ich dich nicht aufgehalten!« Alles sprudelte einfach aus mir heraus, die Enttäuschung, die Bestürzung . Brach hervor
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