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Artikel 5

Artikel 5

Titel: Artikel 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristen Simmons
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jegliches Zeitgefühl verloren.
    »Wenn wir erwischt werden, geht es uns genauso«, sagte ich und bemühte mich darum, mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Chase zerrte mich wieder mit sich, ohne meine Worte zu bestätigen oder abzustreiten.
    Ich würgte die kalte Luft hinunter. Mein Puls war hoch vor lauter Anspannung und Adrenalin.
    »Was, wenn sie meine Mutter schnappen?«
    Sie war bereits verurteilt worden. Und wenn sie es zu dem Stützpunkt geschafft hatte, dann hatte sie ihre Strafe schon abgeleistet. Aber würde das noch zählen, sollte sie an einem Checkpoint erwischt werden?
    Chase hatte den Kopf eingezogen, bewegte sich aber immer noch rasch voran. Der Wald wurde immer dichter; die Häuser, die in der Ferne hinter uns lagen, waren nicht mehr zu sehen.
    »Personen, die mehrfach gegen Artikel verstoßen haben, werden vor das hohe Geschworenengericht des Federal Bureau of Reformation zitiert und ihrer Taten entsprechend verurteilt«, deklamierte er.
    »Was heißt ›ihrer Taten entsprechend verurteilt‹, Captain Jennings?«, fragte ich, und die Erbitterung drängte meine Panik zurück.
    »Ich bin kein Captain. Ich war nur ein Sergeant.«
    »Was bedeutet das?«, grollte ich.
    Eine volle Minute antwortete er nicht.
    »Das Schlimmste, was du dir vorstellen kannst«, erklärte er mir dann mit sehr leiser Stimme. »Es wäre vielleicht nützlich, wenn du dir ein paar Gedanken über … die reale Situation machst.«
    Ich trat auf die Bremse; der abrupte Stillstand nach dem langen Lauf machte mich schwindelig.
    »Nützlich?«
    Er drehte sich zu mir um. Seine Augen blickten verhalten und unergründlich, und sein Kiefer mahlte kaum erkennbar.
    »Nützlich?«, schrie ich ihn an.
    »Leise«, warnte er mich.
    »Du …« Meine Stimme zitterte. Mein ganzer Körper zitterte. Nachdem ich eine Weile nur ein wenig geköchelt hatte, drohte ich nun wieder überzukochen. »So ungern ich es zugebe, ich brauche deine Hilfe. Du sagst, spring, und ich springe. Du sagst renn, und ich renne. Nur weil du Dinge weißt, die in Erfahrung zu bringen mir die Zeit fehlt. Aber du erzählst mir nicht , was nützlich sein könnte, wenn wir über meine Mutter sprechen! Es vergeht keine Minute, in der ich nicht über die reale Situation nachdenke!«
    Er trat näher, packte meine Schulter und beugte sich herab, bis sein Gesicht ganz nah an meinem war. Als er nun wieder sprach, klang in seiner Stimme unterschwellig eine kontrollierte Wut mit.
    »Gut. Aber ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass ich dich nicht brauche? Dass ich, sollte ich geschnappt werden, von Glück reden kann, wenn ich so schnell sterbe wie der arme Kerl dahinten? Ich sage dir, wie meine reale Situation aussieht: Es gibt kein Zurück mehr. Ich setze mein Leben aufs Spiel, um dir zu helfen, und solange ich lebe, wird man mich deswegen verfolgen.«
    Ich fühlte, wie mir sämtliches Blut aus dem Gesicht sackte. Urplötzlich ließ er mich los, beinahe, als wäre ihm gerade erst aufgefallen, dass er meinen Arm umklammerte. Ich konzentrierte mich auf seinen Adamsapfel. Er hüpfte heftig auf und nieder, als Chase zu schlucken versuchte.
    Die Scham erstickte meinen Ärger. Heiße, hässliche, magenzerfetzende Scham. Ich hätte vor lauter Scham zerfließen mögen, doch solange er mir in die Augen starrte, konnte ich den Blick nicht abwenden.
    »I-ich habe nicht vergessen, wie gefährlich das für dich ist«, entgegnete ich vorsichtig, bemüht, den Knoten in meiner Stimme aufzulösen.
    Er zuckte mit den Schultern, und ich wusste nicht recht, ob er damit meine Entschuldigung oder den Wert seines eigenen Lebens herabsetzen wollte. Wie auch immer, es sorgte dafür, dass ich mich noch schlechter fühlte.
    So unbarmherzig sein Ton gewesen war, die Einschätzung seiner eigenen Lage war die niederschmetternde Wahrheit. Dass ich eine so große Bedeutung für das Leben und Sterben eines anderen Menschen hatte, schien mir unfassbar zu sein. Ich konnte es nicht begreifen. Also setzte ich mich unbeholfen wieder in die Richtung in Bewegung, in die wir gelaufen waren.
    Die Uhr tickte.
    Wir marschierten die ganze Nacht und den größten Teil des nächsten Tages und machten nur Pausen, wenn es unbedingt nötig war. Mehr als einmal wurde er Zeuge, wie ich mich vor bloßen Schatten erschreckte, und manchmal sah ich einen düsteren Ausdruck in seinen Augen, wenn irgendeine schreckliche Erinnerung an ihm nagte. Wir sprachen nicht über die Wachsamkeit, mit der wir einander im Auge behielten.

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