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Artikel 5

Artikel 5

Titel: Artikel 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristen Simmons
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mich schon aus dem Badezimmer. Meine Beine fühlten sich sonderbar an, so als würden sie durch Wasser gezerrt.
    An der Küchentür blieb er unerwartet stehen. Ich blickte hinab und sah die mit Jeansstoff verhüllten Beine eines Mannes unter dem Tisch hervorlugen. Ehe ich noch irgendetwas anderes erkennen konnte, wurde ich wieder gegen Chases kraftvollen Arm gepresst. Seine Hand schlängelte sich um meinen Kopf und versperrte mir die Sicht.
    Aber ich konnte etwas riechen. Den metallischen Gestank von Blut, die pfeffrigen Ausdünstungen von Pulverdampf.
    Und ich konnte den Schleuser nach Luft schnappen hören.
    Geführt von Chase tat ich einen Schritt und glitt über etwas Feuchtes. Ich wollte schlucken, aber meine Kehle war so rau wie Sandpapier.
    Etwas veränderte sich an den Atemgeräuschen des Mannes.
    Chase hielt inne. Bückte sich. Löste aber seine Hand nicht von meinen Augen.
    »Lewisburg … West Vir…ginia … zwei … Uhr … Dienstag …«
    »O Gott«, schluchzte ich und stellte mir die Szene, die sich zu meinen Füßen abspielte, so beängstigend vor, wie sie wahrhaftig sein musste. Wieder knarrte die Decke.
    »Sauber!« , rief einer der Soldaten im Obergeschoss.
    »Sucht das … Schild …«
    Mehr sagte der Schleuser nicht. Stattdessen seufzte er einmal schwer und feucht, und dann war er tot.
    Chase ließ mich nicht los, bis wir draußen waren, und auch dann hielt er weiter meine Hand fest. Im Laufschritt zerrte er mich durch den verlassenen Garten zum Wald. Zu meiner Erleichterung arbeiteten meine Beine wieder ordnungsgemäß.
    »Sieh dich nicht um«, durchbrach er die Stille, die unserer Flucht anhaftete.
    Kalte Luft bohrte sich durch die Schweißtropfen auf meiner Stirn und an meinem Hals. Das Gras knirschte unter meinen hastigen Schritten. Ich musste rennen, um mit seiner halsbrecherischen Geschwindigkeit mitzuhalten, als wir in den Wald vordrangen. Keiner von uns bemühte sich darum, das Knacken brechender Zweige zu vermeiden. Meine Augen hingen unentwegt an dem Rucksack über seiner Schulter; er musste ihn übergeworfen haben, als wir die Küche durchquert hatten. Mein überanstrengtes Gehör schnappte lediglich die Geräusche des Waldes auf, abgeschwächt durch das Rauschen meines eigenen Atems. Aber meine Gedanken waren laut, laut, laut.
    Der Schleuser war tot. Ermordet.
    Meine Mutter musste einen anderen Helfer finden.
    Aber selbst wenn sie es bereits bis nach South Virginia geschafft hatte, war sie nicht sicher. Sie würde nie wieder sicher sein. Ich würde nie wieder sicher sein.
    Ich würde auch Beth nie wiedersehen. Kontakt zu ihr aufzunehmen hieße, ihr die Soldaten auf den Hals zu schicken.
    Und dann: Es ist meine Schuld. Ich hatte den Tod des Schleusers nicht verursacht. Ich war nicht verantwortlich. Aber so, wie ich das wusste, wusste ich auch, dass er gar nicht dort gewesen wäre, gäbe es nicht Leute wie mich.
    Man hat uns gesagt, Mädchen wie du wären gefährlich , hatte Chase gesagt, nachdem ich fortgelaufen war. Zu dem Zeitpunkt hatte ich ihm nicht geglaubt. Jetzt tat ich es.
    Ich war gefährlich. Ein Mann, ein Fremder , war gestorben, um uns das Leben zu retten.
    Eine gebieterische Entschlossenheit erschütterte mich. Würde ich jetzt sterben, wäre er umsonst gestorben.
    Konzentrier dich. Seine letzten Worte hatten uns helfen sollen, aber der Plan, der sich aus diesen Worten ergab, war noch dürftiger als der letzte. Welches Schild? Checkpoints dürften kaum öffentlich für ihre Dienstleistung werben. Wir wussten nicht, wo wir hin sollten. Wir wussten nicht, wen wir gefahrlos fragen konnten. Nicht einmal zu unserem Truck konnten wir zurück, nun, da er in dem Radiobericht beschrieben worden war. Wir hatten nur eine Tageszeit und ein Datum, und beides rückte rasch näher.
    Immer wieder sah ich seine Beine vor mir, die so ungelenk auf dem Küchenboden gelegen hatten. Und ich hörte sein Schluchzen und Flehen, man möge ihn zu seinem Sohn zurückkehren lassen – zu Andrew . Mein Gehirn verwandelte den gesichtslosen Soldaten, der ihn exekutiert hatte, in Randolph, den Wachmann. Dann veränderte sich die Szene, wechselte von der Küche in den Wald außerhalb der Reformschule, und ich war die Person, deren Beine auf dem kalten, nassen Boden lagen. Ich war die, die nach ihrer Mutter schrie.
    »Ember!« Chase rüttelte mich an den Schultern. Ich kehrte in die Realität zurück. Inzwischen war es dunkel. Ich wusste nicht, wie lange wir schon unterwegs waren. Ich hatte

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