Artikel 5
Wenn die Anspannung zu schlimm wurde, gingen wir einfach auf Abstand.
Es war ein harter Marsch. In diesen Bergen gab es keine Pfade, und wenn wir uns nicht gerade an wucherndem Gestrüpp entlangmühten, wateten wir durch Bäche oder platschten durch den Schlamm. Als das Adrenalin verbraucht war, wurden unsere Muskeln steif, und wir wurden immer langsamer wie Maschinen, denen das Öl ausging.
Wir redeten nicht über das, was im Haus passiert war, oder über das, was wir danach gesagt hatten. Diese Dinge verwahrte ich sicher in einer verschlossenen Kiste in den Tiefen meines Geistes. Statt ihrer belegten mich die Sorgen um die Sicherheit meiner Mutter mit Beschlag, Gedanken, die mich an den Rand der Hysterie trieben, ehe die Müdigkeit meinen Geist lähmte.
Als die Abenddämmerung hereinbrach, nötigte uns Chase endlich dazu, innezuhalten. Wir beide stolperten inzwischen ständig und bewegten uns immer unbeholfener.
»Uns folgt niemand. Wir werden hier lagern.« Sein Ton war so streng und so müde, dass ich wusste, ich würde mit Widerworten nichts erreichen.
Wir befanden uns auf einer kleinen Lichtung, einem abfallenden Rund, umgeben von Kiefern. Der Boden war relativ eben und nicht allzu steinig. Chase sicherte die Umgebung und sah sich nach Fluchtwegen um, ehe er anfing, die Aluminiumstangen des Zeltes zusammenzustecken, das wir gestohlen hatten.
Als ich die Tasche ergriff, um Lebensmittel herauszuholen, unterbrach er seine Arbeit, nahm mir die Tasche ab und gab mir, was ich brauchte. Zwar fragte ich mich, was er verstecken mochte, aber ich war zu müde, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, also nahm ich den Rest des zerdrückten Brots und bereitete uns Sandwiches zu. Anschließend kontrollierte ich unsere Vorräte. Wir hatten noch zwei Päckchen gefriergetrockneter Suppe und acht FBR -Packungen Müsliriegel, aber das würde nicht lange halten. Wir mussten uns bald neue Vorräte beschaffen.
»Chase?«, fragte ich nach einer Weile, als meine Gedanken wieder zur Besserungsanstalt zurückgekehrt waren.
»Ja?«
»Wenn ein Wachmann in der Resozialisierungsanstalt, na ja, wenn er mit einer Bewohnerin erwischt wird … glaubst du, er wird dann auch exekutiert?« Ich hoffte, er begriff, was ich meinte, denn ich wollte mir wirklich keine komplizierte Erklärung für das zurechtlegen, was passiert war.
Chase fing an, die lange Stange mit Inbrunst durch die Nylonschlaufen zu schieben. Ich glaubte, seine Miene hätte sich wieder etwas verfinstert, aber vielleicht lag es nur an dem nachlassenden Tageslicht.
»Wahrscheinlich nicht. Er hat ja keinen Verrat begangen. Vermutlich stellen sie ihn vor das Militärgericht. Unehrenhafte Entlassung. Das ist nicht gerade alltäglich, aber es kommt vor.«
Meine Züge entspannten sich. Nach dieser Information ging es mir ein bisschen besser. Frei vom FBR zu sein war genau das, was sich Sean und Rebecca gewünscht hatten.
»Gut ist das nicht«, fügte Chase hinzu, als er meinen Gesichtsausdruck sah. »Im zivilen Sektor stehen unehrenhaft entlassene Soldaten in jeder Hinsicht auf einer schwarzen Liste. Jobsuche, Hauskauf, staatliche Fürsorge. Was immer du willst. Man wird ihn wegen Missachtung bestrafen, sollte er dabei erwischt werden, für irgendetwas Geld zu kassieren.«
»Aber wie soll er dann leben?«
»Er soll nicht. Darum geht es ja.«
Ich ließ die Schultern hängen. Sean wäre immer noch ein Soldat, ein konfliktbehafteter dank seiner Liebe zu Becca, aber in Sicherheit, wäre ich nicht gewesen.
Chase hatte innegehalten und starrte mich an. »Du scheinst dir ziemliche Sorgen um ihn zu machen«, platzte er schließlich heraus.
»Na ja, schon. Ich habe wahrscheinlich sein Leben ruiniert«, antwortete ich kläglich.
Chase widmete sich wieder mit dem gleichen Nachdruck wie zuvor dem Aufbau des Zelts. »Hätte er die Regeln befolgt, wäre er gar nicht in Schwierigkeiten geraten.«
»Und hättest du die Regeln befolgt, wärst du nicht in diese Schwierigkeiten geraten! Ja, ich weiß!«, blaffte ich. In meinem Kopf hämmerte es. Seine Worte nach dem Mord tauchten wieder auf und schlugen neue Wunden. Man würde ihn meinetwegen sein Leben lang verfolgen. Ich war eine Belastung. Ich war gefährlich. Ich war seine Bürde. Das hatte ich inzwischen verstanden.
Ein langgezogenes Wimmern aus der Ferne unterbrach uns. Ich sprang auf, aber Chase legte nur den Kopf schief und lauschte. Nach einer Weile konzentrierte er sich wieder gänzlich unbesorgt auf den Zeltaufbau.
»Kojote«,
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