Artikel 5
schnell gegangen und hatte nicht minder abrupt geendet.
Als ich mich umdrehte, sah ich Chase auf mich zukommen. Seine Schritte verrieten mir, dass er wütend war, noch ehe er den Mund öffnete.
Ich konnte nicht klar denken. Meine Ohren klingelten noch von dem Schuss, und mein Schädel brummte unter den flüchtigen Überresten meiner Rage. Tränen verschleierten mir die Sicht. Die Furcht, die vorübergehend geschwiegen hatte, kehrte mit voller Wucht zurück, und in diesem fieberhaften, ratlosen Zustand rannte ich einfach zu ihm und warf mich in seine Arme.
Zuerst wirkte er verblüfft, doch dann drückte er mich rasch an sich.
»Schon gut«, beschwichtigte er. »Niemand ist verletzt. Es ist in Ordnung.«
Seine Worte bohrten sich in mein Bewusstsein, und zum ersten Mal, seit er mich aus der Schule geholt hatte, erkannte ich die Wahrheit über uns. Mir konnte es nicht gut gehen, wenn es ihm nicht gut ging. Von Schmerz, Albträumen, Streitereien und all dem abgesehen, war er schlicht ein Teil von mir.
»Tu das nicht noch einmal! Nie wieder!«, sagte ich zu ihm.
»Das Gleiche könnte ich dir sagen«, entgegnete er, und ich fühlte seinen warmen Atem an meinem Hals.
»Versprich es mir«, forderte ich.
»Ich … ich verspreche es.«
»Ich will dich nicht verlieren. Ich kann nicht.«
In diesem Moment war mir South Carolina gleichgültig. Was ich gemeint hatte, war, dass ich ihn brauchte. So, wie er gewesen war. So, wie er auch heute noch sein konnte, wenn er sich ständig im Griff behielt. Ich wusste nicht, warum ich diese Worte ausgesprochen hatte, aber in diesem Moment bedauerte ich es nicht.
Er zögerte. Dann zog er mich noch fester an sich, bis ich kaum mehr atmen konnte. Meine Füße hoben vom Boden ab, und ich fühlte seine Hände, die sich in meinen Mantel krallten.
»Ich weiß.«
Mein Herz schlug wieder langsamer, aber zugleich so kraftvoll wie nie zuvor. Nun erinnerte ich mich daran, wie es damals war, wenn wir zusammen waren. Ich konnte es in der Art spüren, wie er aus sich herausging, in dem Flirren, das uns verband, wenn er zu denken aufhörte. In diesem Moment, an diesem Ort, war er endlich zurückgekehrt. Mein Chase war wieder da.
Jemand räusperte sich.
Wir lösten uns voneinander wie die falschen Enden zweier Magneten, und was sich gerade noch so sicher angefühlt hatte, zersprang wie zerbrechliches Glas. Nachdem wir vorübergehend vergessen hatten, dass noch andere Menschen zugegen waren, sahen wir nun den Bauern vor uns. Der Baseballschläger steckte unter dem Armstumpf, seine verbliebene Hand ruhte auf dem Kopf seines Sohns. Der Junge lächelte nun irgendwie albern. Mein Gesicht wurde trotz der zunehmenden Kälte des Abends ganz heiß.
»Tut mir leid, dass wir stören. Mein Name ist Patrick Lofton, und das ist mein Sohn Ronnie.«
Zwanzig Minuten später folgten wir Patrick und Ronnie zum Haupthaus. Die Kuh, die zu früh gestorben war, da ihr Käufer, ein Mann namens Billings, erst in einer Woche erwartet wurde, ließen wir zum großen Kummer des Bauern an Ort und Stelle zurück.
Patrick hatte darauf bestanden, dass wir ihn begleiten, damit seine Frau uns mit einer ordentlichen Mahlzeit danken konnte. Als wir ihm erklärten, wir müssten weiter und dass wir Familie hätten, die uns in Lewisburg erwartete, bot er uns an, uns hinzufahren, und wir nahmen an. Die unbekannten Bewohner des Bauernhauses mussten einfach ungefährlicher sein als die verzweifelten, hungernden Menschen im Wald.
Außerdem würde es uns nicht viel anders ergehen als den Herumtreibern, wenn wir nicht bald etwas zu essen bekamen.
Chase hatte uns als Jacob und Elizabeth vorgestellt, und Patrick schien die Pseudonyme zu akzeptieren, obwohl wir zuvor unsere echten Namen benutzt hatten. Mir gefielen sie gar nicht; ich sah nicht aus wie eine Elizabeth. Die einzige Elizabeth, die ich je gekannt hatte, war Beth, und sie war beinahe dreizehn Zentimeter größer als ich und hatte leuchtend rotes Haar. Aber wenigstens hatte Chase mich nicht Alice genannt.
Inzwischen hatte Chase eine fehlerfreie Geschichte darüber ersonnen, wie wir durch den Bombenangriff auf Chicago nach Richmond vertrieben worden waren, was Patrick dazu ermutigte, uns zu erzählen, dass auch er Zeuge ähnlicher Abscheulichkeiten geworden war. Er war Soldat der U.S. Army gewesen, stationiert in San Francisco, als die Stadt gefallen war. Dabei hatte er seinen Arm verloren.
Wir näherten uns einer klapprigen, roten Scheune mit weiß abgesetzten Kanten und
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