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Artikel 5

Artikel 5

Titel: Artikel 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristen Simmons
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Lügner. Er schmückte die Geschichte über seine Verwandten in Lewisburg weiter aus, sagte aber nie genug, um in irgendeiner Weise Misstrauen zu erwecken. Ich staunte, wie viel er zu erzählen hatte. So viel hatte er zuvor in einer ganzen Woche nicht gesprochen.
    Während sich unsere Gastgeber auf Chase konzentrierten, schmuggelte ich für später ein Brötchen in meine Tasche.
    Als sich das Gespräch bald darauf Ronnie widmete, zeigte sich Chases Erschöpfung schon deutlicher. Wie viel Schlaf hatte er in den letzten Tagen bekommen? Wenig in der vergangenen Nacht. In der Nacht davor waren wir unterwegs gewesen. Und davor? Wer weiß?
    Und heute Nacht würde er auch nicht schlafen. Sobald wir wieder für eine Minute unter uns waren, mussten wir entscheiden, ob wir bleiben oder uns rausschleichen sollten. Beides bot keine Gelegenheit zur Entspannung.
    Die Stimmung am Tisch blieb während des ganzen Abendessens angespannt. Wenn Ronnie nicht gerade irgendeine Geschichte erzählte, sprach niemand. Ich hatte von Sekunde zu Sekunde mehr das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Nur das mit einer Verletzung der Ausgangssperre verbundene Risiko und die für den Morgen angekündigte Fahrt nach Lewisburg hielten mich noch auf meinem Sitzplatz.
    Als Reaktion auf die Anspannung schaltete Mary Jane ein Tischradio ein. Als sie das Geschirr spülte, gesellte ich mich zu ihr in die Küche. Das Knistern erinnerte mich an das MM -Radio in Chases Rucksack. Ich hoffte, ich würde Musik zu hören bekommen, aber so viel Glück hatte ich nicht.
    Die Nachrichten hatten bereits begonnen. Die Reporterin, eine Frau namens Felicity Bridewell, schloss jedes Wort in einem unangenehm selbstgefälligen Ton ab. Derzeit sprach sie über die Zunahme der Kriminalität in den Roten Zonen und den FBR -Beschluss zur Verstärkung der Truppen an den Grenzen.
    Mit Schaudern dachte ich an die Begegnung mit der Highway Patrol.
    Die Männerstimmen im Nebenraum verstummten, und ich wusste, dass Chase ebenfalls den Nachrichten lauschte. Ich stand angespannt schweigend und mit trockenem Mund in der Küche.
    »… untersuchen den Mord an einem weiteren FBR -Offizier am heutigen Tag in Virginia. Die Behörden sind zu dem Schluss gekommen, dass es sich um das zweite Opfer eines Täters handelt, der inzwischen als der Virginia-Sniper bezeichnet wird. Bisher haben sich keine Zeugen gemeldet …«
    Ein Heckenschütze, der FBR -Offiziere ermordete … hatte das irgendetwas mit dem gestohlenen Uniformlaster aus Tennessee zu tun? Ich spürte ein sonderbares Kribbeln in der Brust. Es war ganz sicher nicht sonderlich anständig, Gewalttaten herbeizusehnen, aber wenn die Leute sich zur Wehr setzten, und sei es mit Gewalt, gab mir das Hoffnung.
    Ehe meine Mutter verhaftet worden war, hatte ich einfach hingenommen, wie tief die MM in unser aller Leben eingriff. Es gefiel mir nicht, aber schließlich war auch nicht alles schlecht, was sie taten. Das Erneuerungsgesetz hatte zur Einrichtung der Suppenküchen und zum Einfrieren der Hypothekenkredite geführt, Dinge, ohne die wir womöglich nicht überlebt hätten. Aber seit der Revision hatte sich mein Blickwinkel verändert. Nun schien es mir geradezu überdeutlich, dass all diese Programme nur dazu dienten, uns von exakt der Maschinerie abhängig zu machen, die uns unterdrückte. Die Kluft zwischen der Regierung und den Bürgern war nie größer gewesen.
    Die MM hatte mir mein Leben genommen. Ich konnte nicht zurück, konnte nicht mehr zu Schule gehen, konnte nicht mehr nach Hause. Vielleicht würde ich Beth und Ryan nie wiedersehen. Zum ersten Mal seit dem Krieg überlegte ich, wie das Leben ohne die MM sein könnte. Ohne Rote Zonen und Ausgangssperren. Ohne Reformschulen und Statuten. Und mir wurde bewusst, dass ich überleben konnte, denn genau das taten Chase und ich zurzeit.
    Ich schüttelte den Kopf, um wieder zu mir zu kommen. Ich war die, die die Dinge zusammenhielt, nicht die, die Ärger provozierte. Mich einer Widerstandsbewegung anzuschließen war ein verrückter Gedanke. Unverantwortlich. Und es bedeutete mir nicht einmal wirklich etwas – nicht, solange ich auf der Suche nach meiner Mutter war.
    »… Mord in Harrisonburg, Virginia, der an eine Exekution erinnert. Der Verstorbene ist ein nicht identifizierter weißer Mann Mitte vierzig.« Pause. Papierrascheln. »Wir erfahren gerade, dass das Federal Bureau of Reformation diesen Todesfall mit dem Virginia-Sniper in Verbindung bringt. Damit muss dieser Fall als der

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