Artikel 5
Flüsterton sprach, tat er es mit großer Vehemenz. Ich glaubte ihm aufs Wort.
»Ich werde auf dich warten«, versprach ich.
Er drehte meinen Kopf und barg mein feuchtes Gesicht an seiner Schulter, und er hielt mich fest, bis ich wieder ruhig atmete. Nach einer Weile legte er sich neben mich und sagte: »Schlaf gut, Ember.« Und als ich am Morgen erwachte, war er fort.
Chase schlief, still und traumlos, während ich wach blieb und mich mit brennenden Gedanken plagte. Mein Bedürfnis, voranzukommen, war stärker denn je, und ich fing an, darüber nachzudenken, wie wahrscheinlich es war, dass wir bei Nacht von einem MM -Streifenwagen aufgegriffen würden. Vielleicht war die Gefahr gar nicht gegeben. Vielleicht konnten wir den ganzen Weg bis nach Lewisburg hinter uns bringen, den Schleuser aufsuchen und schon morgen in South Carolina sein.
Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, musste ich zugeben, dass ich nicht nur wegen meiner Mom mit den Hufen scharrte und unbedingt weiter wollte. Was zwischen mir und Chase vorgefallen war, würde sich zweifellos zu einer Peinlichkeit für uns beide entwickeln, und mir war jeder Weg recht, um das zu vermeiden. Chase hatte offenbar immer noch vor zu verschwinden, sobald wir das sichere Haus erreicht hatten, und vielleicht war es auch besser so. Wenn ich für ihn nicht Grund genug war zu bleiben, dann wollte ich ihn auch nicht in meiner Nähe haben.
Ich nagte an meinem Daumennagel und ärgerte mich darüber, dass er mir so viel bedeutete.
Nach einer Stunde schlich ich durch den Korridor, nur um festzustellen, dass Patricks Lampe immer noch brannte. Ich hörte, wie er sich auf dem Sofa bewegte und die Seiten dieses verdammten Buchs umblätterte. Warum ging er nicht einfach zu Bett? Ich hatte das Gefühl, dass er absichtlich wach blieb, um auf sein Haus aufzupassen und dafür zu sorgen, dass wir ihn nicht bestehlen konnten.
Im Grunde konnte ich ihm das nicht vorwerfen.
Ich war auf dem Weg zurück zum Gästezimmer, als ich den Boden knarren hörte, nun aber auf der anderen Seite des Korridors. Hastig verschwand ich im Gästebad und wartete. Und dann klapperte die Kellertür.
»Ist Billings da?«, hörte ich Mary Jane flüstern. Also war sie im Keller, zusammen mit dem Jungen. Ich kam mir vor wie eine Idiotin, dass ich diese Leute für so naiv gehalten hatte; sie waren schon seit dem Abendessen dort unten. Dorthin zog sich die Familie zurück, wenn Gefahr drohte.
Billings? Wer war Billings? Die Antwort dämmerte mir nur langsam. Patrick hatte diesen Namen schon einmal genannt. Er war der Käufer. Die Person, die das Rind zum Schlachthof hätte bringen sollen.
»Noch nicht. Dürfte aber nicht mehr lange dauern. Schließ die Tür ab.«
»Aber du bist vorsichtig, ja?«, bat sie mit kläglicher Stimme. »Wenn er wirklich der Kerl aus dem Radio ist, dann ist er gefährlich. Ich kann nicht fassen, dass du sie hergebracht hast. In unser Haus. Und Ronnie …«
»Erzähl du mir nichts von Ronnie«, blaffte Patrick sie an. Dann seufzte er schwer. »Schau, mir gefällt das auch nicht, aber für den letzten Soldaten haben wir tausend Dollar bekommen. Dieser bringt noch mehr. Hinter dem sind die Ordnungskräfte schon her und so. Und wer weiß, vielleicht bekommen wir sogar einen Bonus für das Mädchen. Das würde reichen, damit wir den Sommer hier draußen überstehen. Wir müssten nicht in die Stadt ziehen, wie wir es besprochen hatten.«
Mein Magen fühlte sich an, als hätte ich eine Tüte Reißzwecken verschluckt. Plötzlich war alles ganz klar.
Die Loftons hatten uns mit ihrer Gastfreundschaft eingelullt, um uns hierzubehalten. Seit dem Moment, in dem wir ihr Haus von innen gesehen hatten, ahnte ich, dass irgendetwas nicht stimmte. Ein Generator? Kinderspielzeug? Warum hatte ich nicht auf meine Intuition vertraut? Und jetzt besaßen wir nicht einmal eine Waffe.
Billings, wer immer das war, war unterwegs hierher. Die Schmerzen in meinem Körper waren vergessen. Ich musste zu Chase, und wir beide mussten von hier verschwinden. Sofort.
Ich lauschte nicht länger, sondern huschte leise zurück über den Gang zu unserem Zimmer und packte Chase am Fußgelenk. Zwar konnte ich ihn im Dunkeln kaum sehen, aber ich spürte, wie er sich rasch aufsetzte.
»Was ist los?«, fragte er aufgeschreckt. »Alles in Ordnung mit dir?«
»Wir müssen weg – die haben jemanden hergerufen. Der Junge und die Mutter sind im Keller, und Patrick spielt den Gefängniswärter«, erzählte ich ihm in einem
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