Ascheherz
Jetzt kennst du mein Geheimnis. Ja, wir können
menschlich sein, vielleicht sogar menschlicher als eure Lords. Wir lieben und wir leiden wie ihr. Und wir weinen, wenn uns etwas das Herz zerreißt. Vielleicht sind wir weniger mächtig, als du glaubst. Nicht Lady Mar hat befohlen, ihn einzusperren, sondern Lord Joras! Und stell dir vor, ich hatte die verrückte Idee, dass ich den Soldaten vielleicht retten oder zumindest trösten kann. Ich würde alles tun - alles! -, um ihm dieses Schicksal zu ersparen. Er hat nichts getan, außer mein Leben zu retten. Und dabei habe ich unglücklicherweise meine Maske verloren. Es … war nicht seine Schuld. Es war meine.«
Tellus strich sich verlegen über den Lederkragen seines Mantels und berührte dann verstohlen den Ring, den er an der Kette um den Hals trug. Heute lag er über dem Wollhemd. Wie Summer schon vermutet hatte, war es ein Ring, der auf einem schmalen Frauenfinger seinen Platz gehabt hatte. Einen Moment zögerte sie noch, ihren letzten Trumpf auszuspielen und diese alte Wunde zu berühren, aber dann machte sie sich klar, dass es vielleicht ihre einzige und letzte Chance war. Es war ihr gelungen, die Kerkertür seines Herzens ein winziges Stückchen aufzuschieben. Jetzt musste sie nur noch das richtige Losungswort finden, damit sie über die Schwelle treten durfte. Er ist einsam. Er hat geliebt und verloren. Und im Herzen ist er immer noch ein Krieger, dessen Kraft ihn verlassen hat und den niemand mehr ernst nimmt.
»Ich weiß, in deinen Augen muss es lächerlich wirken«, sagte sie. »Aber wie solltest du es auch verstehen? Du bist ein Krieger. Sicher hast du nie in deinem Leben geliebt und nie erfahren, wie es ist, jemanden zu verlieren, den du liebst. Aber weißt du was? Du kannst mich verspotten, soviel du willst, mir ist es gleichgültig.«
Jetzt weinte sie tatsächlich, mitgerissen von dem Strom ihres
Kummers, der sich selbstständig machte und die Szene umso glaubwürdiger wirken ließ. Sie wandte sich ab und machte sich daran, zu gehen, aber sie ließ sich Zeit dabei, strich sich fahrig den Rock glatt, als versuche sie, die Fassung wiederzugewinnen.
Kurz bevor sie bei der Tür war, hörte sie ein Räuspern.
»He, warte mal!« Sie drehte sich nur zögernd um und warf ihm einen misstrauischen, scheuen Blick zu. Er knetete seine Finger, und es kostete ihn offenbar viel, einen Entschluss zu fassen. Schließlich zog er die Brauen zusammen und war wieder der bärbeißige Wächter.
»Ach, komm schon her«, fuhr er sie an und winkte sie zum Tisch. »Ich kann verheulte Weiber nicht leiden. Hier, setz dich erst einmal und nimm einen Schluck. Das beruhigt.«
Es war nicht ganz die Reaktion, auf die sie gehofft hatte, aber sie gehorchte dennoch und nahm an dem kleinen Tisch Platz, während Tellus zu einem Regal watschelte und mit zwei Gläsern und einer halb leeren Flasche ohne Etikett zurückkam. Ächzend ließ er sich wieder auf dem Klotz nieder, schenkte ein und schob ihr das Glas zu. »Runter damit«, meinte Tellus. »Lange her, dass ich mit jemandem angestoßen habe.«
Summer sah zu, wie er die klare Flüssigkeit hinunterkippte und tat es ihm nach. Und wünschte sich im nächsten Moment, sie hätte das Zeug heimlich unter den Tisch geschüttet. Es war das flüssige Gegenstück zu einer Explosion von Schießpulver und Tannenzapfen. Direkt in ihrem Rachen und ihrer Nase. Tellus lachte heiser, während sie sich hustend auf dem Stuhl krümmte.
»Das ist nicht lustig«, fauchte sie ihn an, sobald sie wieder Luft bekam. »Ist das deine Art, dich hier langsam umzubringen?«
Tellus grinste immer noch. »Vertreibt den Kummer«, meinte er nur und lehnte sich an die Wand. »Los«, forderte er sie auf. »Erzähl
mir was. Irgendwas. Von mir aus ein paar Lügen. Ich habe schon seit mindestens hundert Jahren keine Geschichte mehr gehört.«
Summer wollte widersprechen, aber dann verstand sie, was er ihr gerade angeboten hatte. Kein Spiel diesmal, sondern ein Tauschgeschäft. Sie räusperte sich und nickte. »Weißt du, dass ich Schauspielerin war?«, begann sie. »In einem Theater in Maymara.«
»Ist nicht wahr«, sagte Tellus ironisch. »Eine Lady auf der Bühne.« Um seine Augen bildete sich ein Fächer aus listigen Fältchen.
»Doch, es stimmt wirklich«, beharrte Summer. »Hör zu!«
Das Erstaunlichste war, dass sie selbst die Zeit dabei vergaß. Es freute sie zu sehen, wie Tellus Morts Stück durchlebte, die Sommerkönigin vor sich sah und die schöne Charisse
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