Ascheherz
die Arme und verblasste. Eine Sekunde lang erinnerte noch ein flüchtiger Glanz in der Luft daran, dass sie hier gewesen war. Das und die Bronzemaske, die auf dem Boden zurückgeblieben war. Beunruhigt blickte Summer wieder zu dem alten Wächter. Und war erstaunt, dass er Beljéns Verschwinden überhaupt nicht zur Kenntnis nahm. Er blickte nun sie an, als sei sie von Anfang an allein hier gewesen. Ein Atemzug verging, zwei, und Beljén tauchte nicht wieder auf.
»Kann ich noch etwas tun, Mylady?« Es klang kein bisschen unterwürfig. Eher wie eine Aufforderung, endlich zu gehen. Unter der Maske presste Summer die Lippen zusammen. Das würde dir
so passen, alter Mann! Es war leicht, wie eine Zorya aufzutreten. Sie kam so nah an ihn heran, dass er es als Drohung wahrnehmen musste. Der Geruch von altem Leder und Pfeifentabak stieg ihr in die Nase.
»Hör auf, dein Spiel mit mir zu spielen«, sagte sie warnend. »Ich habe gesehen, dass du einen Schlüssel hast. Und ich befehle dir, mich zu dem Gefangenen zu bringen.«
Lord Joras hätte nun sicher zu schwitzen begonnen, aber dieser Wächter hatte offenbar weit weniger zu verlieren. Wäre er ein Wolf gewesen, hätte sich sein Nackenfell jetzt drohend gesträubt. Er wich keinen Zentimeter zurück, sondern starrte Summer direkt in die Augen. »Befehlt, soviel Ihr wollt. Und ich erkläre es Euch gerne ein zweites und ein drittes Mal. Ich kann Euch nicht in die Kammern der Winde bringen. Es sei denn, ihr könnt durch die Stahltür da hinten gehen - und dann noch durch zwei weitere.«
»Du lügst!«, herrschte Summer ihn an. »Dafür könnte ich dich verhaften lassen.«
Jetzt lachte er. Ein raues, atemloses Lachen, das in ein ungesundes Husten überging. »Nur zu!«, meinte er. »Die Betten in den Kammern der Winde sollen weitaus bequemer sein als die Wächterpritsche hier unten. Oder«, seine wulstigen Lippen verzogen sich zu einem humorlosen Lächeln, »meint Ihr, ich schlottere um das, was von meinem Leben noch bleibt? Seht mich an, Mylady. Sie lassen mich hier oben in diesem zugigen Loch sitzen und die Gefangenen bewachen, weil ich der Einzige bin, der diese elende Kälte aushält und der weiß, wie man diesen klapprigen Essensaufzug wartet. Und wenn der Henker Pech hat«, er klopfte sich auf die Brust, was wieder ein rasselndes Husten hervorrief, »wird er nicht mehr viel zu tun haben. Also belustigt mich ruhig weiter
mit Euren Drohungen. Ich hatte hier oben schon lange nichts mehr zu lachen. Oder holt einfach den Gefängnisverwalter mit den Schlüsseln.«
In den Taschen ballte Summer die Hände so fest zu Fäusten, dass Morts Katzenkopf sich tief in ihre Handfläche drückte. Stumm maßen sie sich mit Blicken. Atem fror in der eisigen Luft.
Aber obwohl Summer dem Alten am liebsten die Hände um den dicken Hals gelegt und zugedrückt hätte, musste sie widerwillig zugeben, dass er ihr imponierte. Mort war genauso , schoss es ihr durch den Kopf. Was ihr schlagartig klarmachte, dass sie als Zorya keine Chance hatte. Sie musste wiederkommen. Ohne Beljén. Mühsam kämpfte sie ihren Zorn und die Enttäuschung nieder.
»Sagst du mir wenigstens, ob es ihm gut geht?«, fragte sie freundlicher. »Ich meine den Gefangenen mit der Schusswunde. Du musst doch gesehen haben, wie sie ihn hergebracht haben.«
Zum ersten Mal blitzte so etwas wie Interesse in den dunklen Augen auf.
»Der Junge, ja«, antwortete er lauernd. »Der ist oben. Ehrlich gesagt: Nur er ist da oben.«
Das Wissen darum, dass der Blutmann nur wenige Meter von ihr entfernt war, ließ ihr Herz schneller schlagen.
»Und?« Sie konnte das Beben in ihrer Stimme nun kaum unterdrücken.
»Geht ihm ganz gut, schätze ich«, fuhr der Alte fort. »Jedenfalls hat er geflucht wie ein Schmied und sich gewehrt, als er vor einigen Tagen hergebracht wurde. Einem Soldaten hat er ein blaues Auge verpasst.«
Sie konnte nicht anders, unter der Maske huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Der Alte bemerkte das Strahlen ihrer Augen. Es
schien ihn zu überraschen und gleichzeitig zu irritieren. Er runzelte die Stirn und drehte geistesabwesend an einem Ring, den er am linken Ringfinger trug. Summer erfasste mit einem Blick das Zwischenstück aus neuerem Metall, das nachträglich eingefügt worden war, damit der Ring immer noch an den dick gewordenen Finger passte. Und unter dem straff gespannten Wollhemd, das im klaffenden Spalt seines Mantels zu sehen war, zeichnete sich ein weiterer Ring ab, der wohl an einer Halskette oder
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