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Ascheherz

Ascheherz

Titel: Ascheherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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Zitadelle. Und da oben, in dem Rondell, in dem die Kammern sind, war der sicherste Ort im ganzen Land. In Friedenszeiten beriet sich dort König Beras mit seinen Leuten. In Kriegszeiten verbarrikadierten sie sich. Man kann die Treppe abhängen. Und selbst wenn Ihr alles hier oben verbrennt, was aus Holz ist, sind die Kammern der Winde unzerstörbar. Tja, früher wurden von da oben die Geschicke des Landes verwaltet. Aber jetzt ist es ein Ort, an dem die Vergessenen ihr Leben beenden.«
    Jetzt streifte sie doch ein Hauch von Angst. »Die Gefangenen werden getötet?«
    Tellus lachte rasselnd. »Wo denkt Ihr hin, Mylady. Die Fenster der Kammern sind nicht einmal vergittert. Aber die Mauern sind zu glatt, um daran runterzuklettern. Und der Wind - oh, er ist die wahre Folter. Er reißt einem jedes Wort von den Lippen. Kein Wort aus den Nachbarzellen dringt herein, und jeden, der nur seinen Kopf aus dem Fenster streckt, reißt der Windwirbel
erst nach oben wie eine Lumpenpuppe, bevor er ihn dann unten auf die Felsen schmettert. Nicht einmal die Möwen wagen sich in diesen Windstrudel. Und jetzt stellt Euch vor, Ihr hört Tag für Tag nur das Heulen des Windes und seid allein mit der unendlichen Weite des Himmels und den kalten Sternen. So weit weg von allen anderen, dass Ihr nach einer Weile selbst vergesst, wer Ihr seid. Und irgendwann hört Ihr, dass der Wind zu Euch spricht. Er flüstert Euch zu, dass Ihr springen sollt.« Tellus’ Stimme war leise geworden, so als spräche er zu sich selbst. Und was er erzählt, ist seine eigene Geschichte , dachte Summer. Auch wenn es ihm vielleicht gar nicht bewusst ist. Wie einsam musste er sein, um so verbittert zu klingen und doch einer Fremden so viel zu erzählen? Und sicher hatte er seit vielen Monaten oder vielleicht sogar Jahren kein freundliches Wort mehr gehört. »Tja, so sieht es aus, Mylady«, schloss Tellus und hustete dumpf. »Früher oder später sind die Zellen leer. Kaum einer hält es länger als ein paar Monate da oben aus.«
    »Keiner außer dir«, sagte sie leise.
    Er blinzelte etwas zu oft und schluckte. Stieß verlegen die Karten an und betrachtete die Herzkönigin. Dann fasste er sich wieder. Das Misstrauen kehrte in seine Züge zurück.
    »Warum wollt Ihr so dringend zu diesem Soldaten?«
    »Er hat mich gerettet.«
    »Oh, er wird sich über Euren Besuch bestimmt freuen!«, höhnte Tellus. »Ein schöner Dank für Eure Rettung, dass er sein Leben da oben beschließen darf. Was hat er denn verbrochen? Eure Maske gestohlen, um Euer Gesicht zu sehen?«
    Summer senkte den Kopf.
    Tellus schnaubte verächtlich, dann wischte er die Karten so heftig zur Seite, dass sie über den Tisch rutschten und zu Boden flatterten.
Es war, als würde der ganze Mann sich verhärten wie Granit. »Nehmt Eure Karten wieder mit, Mylady. Wenn Ihr etwas von mir wollt, dann gebt mir etwas, was Euch wirklich etwas kostet!«
    Summer musste sich beherrschen, um ihre Rolle weiterzuspielen. Oder vielleicht war es gar keine Rolle, denn bei dem Gedanken, dass es ihr vielleicht nicht gelingen würde, in die Kammern zu kommen, stiegen ihr nun tatsächlich Tränen in die Augen. Am liebsten hätte sie den Alten angeschrien, aber dann holte sie nur krampfhaft Luft, als ringe sie mit sich, tastete mit fahrigen Fingern nach der Maske und nahm das Elfenbeingesicht ab. Sie blinzelte und die Tränen, denen sie nun freien Lauf ließ, rannen über ihre Wangen. Mort wäre stolz auf mich . Dann hob sie den Kopf und sah Tellus unglücklich an. »Bist du jetzt zufrieden? Mehr kann ich dir nicht geben!«
    Die theatralische Geste verfehlte ihre Wirkung nicht.
    Dem Wächter klappte der Mund auf. Im ersten Schreck wurde er blass und wollte aufspringen, doch er fiel ächzend auf den Holzklotz zurück. Summer konnte seine Gedanken fast wie auf einer Leinwand über seine Stirn flackern sehen. Der verbotene Blick in das Gesicht einer Zorya. Die Todesstrafe. Der kleine Schritt, der ihn selbst in die Kammern der Winde bringen konnte. Nun, offenbar hing er doch am Leben.
    Doch dann überraschte der Alte sie maßlos. »Du meine Güte, du bist ja noch ein halbes Kind«, murmelte er fassungslos. »Nicht älter als der arme Kerl da oben. Und du kannst weinen? Aber man … man sagt doch, ihr seid keine Menschen!«
    Jetzt starrten sie sich beide verblüfft an. Dann fing sich Summer und wischte sich mit dem Ärmel über die Wangen. »Ich kann weinen«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Und du kannst dir ja denken, um wen.

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