Ascheherz
Albträume von den Türen fernzuhalten. Und morgens kehren wir die erdolchten Träume mit schwarzen Besen von den Schwellen.«
Heute stritt sie nicht mit ihm um die Wahrheit. Viel zu einfach war es, mit Anzej zu lachen, und ebenso einfach, die Angst zu vergessen. Nur die Melodien ihres Liedes wollten sich nicht verscheuchen lassen.
»Das Lied geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Es klingt nach einem Verlust - und irgendwie nach mir. Mein wahres Sein … Vielleicht habe ich das Lied geschrieben? Vielleicht war ich Sängerin? Oder ich war in einen Sänger verliebt?«
Anzej lachte. »Du bist verliebt«, antwortete er mit der spöttischen Stimme. »In mich.«
Das war der Moment, in dem die Fröhlichkeit ihr mit einem Wimpernschlag abhanden kam. Sie richtete sich auf und schüttelte den Kopf. »Sei nicht so arrogant, Anzej«, sagte sie verärgert. »Wen ich liebe, entscheide immer noch ich.«
»Ach komm, Summer! Gib es zu, ich bin ein guter Dieb. Ich habe dein Herz gestohlen. Und du hast es nicht einmal gemerkt.«
»Woher willst du das wissen? Nur weil wir uns geküsst haben? Bilde dir nur nicht zu viel darauf ein!«
»Ich weiß es einfach«, antwortete er schlicht. »Und außerdem verrätst du dich jede Nacht. Du suchst nach meiner Hand, wenn du schlecht träumst.«
Seine Stimme hatte einen sanften Klang angenommen, dem Summer sich nicht entziehen konnte. Sie wollte widersprechen, doch eine plötzliche Unsicherheit ließ sie zögern. Was, wenn er recht hat? Was, wenn ich überhaupt nicht weiß, dass ich mich in ihn verliebt habe, weil ich gar nicht weiß, wie Liebe sich anfühlt?
Anzej setzte sich auf, sodass sie einander direkt in die Augen sehen konnten. Natürlich gefiel er ihr. Alles an ihm war ihr vertraut, und allein die Vorstellung, von ihm getrennt zu sein, versetzte ihr einen Stich.
»Küss mich, Summer!«, bat er sie. Als ihre Lippen seinen Mund berührten, schloss sie die Augen. Anzej zu küssen, war wie in einem warmen See zu versinken. Sie hätte Angst haben müssen, zu ertrinken, doch das Wasser schmeckte nach Luft und Honig und hüllte sie in einen Kokon von Wärme und Geborgenheit.
Vielleicht ist das ja tatsächlich Verliebtheit? , dachte sie. Das Gegenteil von Einsamkeit. Ohne den Ballast von Erklärungen und Schwüren.
Und während sie sich noch tiefer in den Kuss hineinfallen ließ, strich sie mit der Hand über Anzejs Schulter, seine Rippen und fuhr den Schwung des Schlüsselbeins mit den Fingerspitzen nach. Wie immer war es, als würde die Berührung ein Echo auf ihrer eigenen Haut hervorrufen, ein angenehmer Schauer, der sie tiefer in dieses Dickicht aus Empfindung und Nähe lockte.
Und dennoch - irgendwo, tief vergraben in ihrer Brust - pochte eine leere Stelle. Etwas, das gefangen war und sich flatternd zu befreien suchte. Ihre Finger, ihre Hände und ihre Haut erinnerten sich an eine andere Form der Schultern, an Muskeln, die auf andere Art dem Druck ihrer Fingerspitzen nachgaben und ein anderes Echo wachriefen. Und an eine Haut, die rauer war, dunkler
und nicht den flüchtigen Hauch von Wind und Goldstaub trug, sondern einen würzigeren Duft - vielleicht Zedernrauch?
Den Namen der Stadt, die sie an einem windigen Oktobertag erreichten, erfuhr Summer erst, als sie ein schmales Zolltor auf einer felsigen Anhöhe durchschritten: Anakand. Steile Treppen führten durch eine bizarre Landschaft heller Kreidefelsen zu einer Landzunge, auf der die Stadt ins Meer hineinragte. Schmucklos lag sie da, bewehrt mit einem Zahnkranz von Piers, an denen Boote und Schiffe vor Anker lagen. Dieses Meer glich nicht im Entferntesten dem glatten Spiegel in Maymaras Hafen. Es war wogendes Grau mit Zähnen aus weißen Wellenkronen, die grimmig in die Landzunge bissen. Im Schein einer blutleeren Abendsonne gleißten die Häuser im selben kalten Grauweiß wie die Klippen. An Felsen und Hauswänden brach sich das Motorengeräusch der kleineren Boote. Summer staunte über die vielen Reisenden, die die Stadt betreten wollten und sich nun vor dem kleinen Zolltor sammelten. Sie wurde unruhig, als sie sich ihnen näherten, aber Anzej zog sie entschlossen weiter. Ihre leichtere Städterkleidung hatten sie an ihrer letzten Station gegen dunkelblaue Mäntel mit Regenkapuzen eingetauscht. Zerschlissene Hosen aus demselben festen Stoff steckten in eng geschnürten Stiefeln, die Summer für wenig Geld erstanden hatte.
»Seeleute?«, fragte der Zollbeamte.
»Reisende«, antwortete sie. Diesmal ließ sie es zu, dass der
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