Ascheherz
mehr als einem Kuss, und sie spürte der Sehnsucht nach, ihn ganz zu umarmen. Doch obwohl sie sich mit jeder Faser ihres Körpers danach sehnte, wagte sie niemals, über diese Grenze hinauszugehen. Warum, konnte sie selbst nicht sagen - und Anzej, der ihr ohnehin niemals Fragen stellte, nahm es einfach hin.
Während der geflüsterten Unterhaltungen in der Nacht versuchte Summer, Wörter und Sätze seiner Sprache zu lernen, doch aus irgendeinem Grund war es ihr unmöglich, sie zu behalten, ganz so, als läge ein Schleier über ihren Gedanken. Anzej dagegen lernte ihre Sprache so schnell, dass es unheimlich war, aber niemals verwendete er sie dazu, um ihr Dinge zu entreißen. Auch das war eine neue Erfahrung, die sie staunend zur Kenntnis nahm: Mit Anzej zu reden, war niemals ein Tauschgeschäft.
Die fremden Lippen aus den nebelhaften Räumen ihrer Vergangenheit blieben verschwunden - ebenso wie der Blutmann, der ihre Träume verlassen hatte, um sie stattdessen in der realen Welt zu verfolgen. An seine Stelle traten schattenhafte Erinnerungen: Gesichter, die ihr bekannt vorkamen, Lieder, die sie erkannte - und immer wieder die Todesfrau als neues Gespenst ihrer Nächte.
»Lady Tod ist bei mir«, murmelte sie Anzej nach einem dieser Träume zu. »Es ist, als hätte sie seinen Platz in meinen Träumen eingenommen. Sie wartet auf mich in einer goldenen Barke. Irgendein Mädchen nenne ich Beljén - und einen Mann Indigo. Ein seltsamer Name, oder? Aber da sind auch … andere. Sie sind wütend auf mich und sie tragen lange Mäntel. Ich kann Staub riechen - und Asche.«
Anzej spürte ihre Gänsehaut und zog sie an sich. »Denk nicht daran!« Zärtlich streifte er mit den Lippen über ihre Augenlider - und seltsamerweise verblassten die beängstigenden Bilder, verloren an Farbe und Wirklichkeit. »Es zählt nicht, was war«, fuhr Anzej fort. »Es zählt nur, was sein wird. Und bald sind wir in Toljan.«
In jeder anderen Nacht hätte Summer sich bereitwillig in die Sicherheit des Vergessens geflüchtet, das Anzejs Gegenwart ihr schenkte, aber diesmal widerstrebte es ihr, die eben gefundenen Bilder wieder zu verlieren.
»Du willst vielleicht vergessen, aber ich will mich erinnern!«, erwiderte sie unwillig. »Mir geht auch ein Lied nicht aus dem Kopf. Vielleicht kennst du es? Es reimt sich nicht, vielleicht ist es gar kein Lied, sondern ein Gedicht. Jedenfalls … Ich höre es im Schlaf. Hör zu!« Es war seltsam, das Lampenfieber an diesem Ort zu spüren, sie musste sich räuspern, bevor sie sich traute, das Liedgedicht zu singen. Leise, mit zitternder Stimme und klopfendem Herzen begann sie:
Kalter Atemhauch
der Realität
löscht
die Illusion -
ewiglich
glimmt unsichtbar
unter der Asche
der Traum.
Sommerblätter
abendschwarz
trinken
Gedanken -
in ihren Venen kreisend,
mein wahres Sein.
Die schmelzende Melodie schien in der Luft nachzuzittern. Summer musste lächeln, doch sie wusste nicht, warum.
»Die Worte klingen zwar traurig, aber trotzdem will ich lachen, wenn ich sie höre. Kennst du das Lied?«
»Es klingt hübsch. Aber nein, ich kenne es nicht«, antwortete Anzej mit einem Gähnen. »Was kein Wunder ist. Ich kenne kein Lied.«
»Überhaupt keines?«
Er schüttelte den Kopf. Sein Haar streifte über ihren Hals und kitzelte sie. »In Toljan brauchen die Menschen keine Lieder«, erwiderte er mit einem Lächeln. »Dort singen nur Wölfe. Für uns sind die Lieder … wie heißt das Wort? … nutzlos.«
»Nutzlos?« Wieder einmal stellte Summer fest, dass er sie immer noch überraschte. In Augenblicken wie diesen wusste sie nicht, ob sie entsetzt sein oder lachen sollte. »Wie kann ein Lied denn nutzlos sein?«
»Es setzt dir nur Bilder in den Kopf. Dann lachst du über erfundene Geschichten. Oder du klatschst sinnlos im Takt wie ein Idiot. Das nützt dir alles nichts, wenn du kein Abendessen hast oder nicht weißt, wo du schlafen sollst. Vieles, was die Städter mögen, ist nutzlos in Toljan. Küsse zum Beispiel. Oder Wein, Tanz. Das führt nur zu Liebeskummer, einem schweren Kopf und schmerzenden Füßen.«
»Küsse auch? Dann bin ich nicht so sicher, ob ich dorthin will.«
»Oh, doch«, erwiderte Anzej eine Spur zu ernsthaft. »Du wirst es schön finden. Wir tragen alle Masken und scheren uns das Haar, um völlig gleich auszusehen. Wir verschwenden die Zeit nicht mit Angst oder Zweifel. Das Leben ist ruhig und Träumen ist verboten. Wir haben sogar Wächter, die nur dafür da sind,
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