Ascheherz
Wasseroberfläche. Das Boot trieb weiter und landete in einer Halle. Eine riesige Kathedrale unter Wasser. Tropfsteine hingen von der Decke. Die Reliefs, die die Gezeiten in den Felswänden hinterlassen hatten, wirkten wie verzerrte Bogenfenster. Darunter erinnerten Wasserflecken an Gesichter mit hohlen Augen. Nasse Bärte aus langen Algen vervollständigten die seltsame Illusion.
»Wir nennen das hier den Tempel der Haie«, sagte Beljén leise. »Man erreicht den Tempel nur während weniger Wochen im Jahr, und dann auch nur in der kurzen Zeitspanne, wenn das Wasser bei
Ebbe so tief steht wie jetzt. Und man braucht ein besonders flaches Boot dafür.«
In diesem Moment stieß das Boot gegen einen hölzernen Anleger, der in die Mitte des Beckens hineinragte. Beljén stand auf. »Komm!«, sagte sie. Summer ergriff ihre Hand und versuchte, nicht zum Wasser zu blicken. Dutzende von Haien strichen um Boot und Anleger herum. Graue Körper, deren raue Haut über die Bootshaut schabte. Die matten Fischaugen schienen sie lauernd zu beobachten.
»Hast du das Kind gesehen?«, flüsterte sie Beljén zu. »Es stand draußen auf dem Felsen.«
»Ein Kind? Nein, das muss eine Erinnerung sein«, erwiderte Beljén verwundert. »Niemand wagt sich hierher. Und keiner würde es überleben, so nahe am Haitempel auf den Felsen herumzuklettern. Der König, der diese Zitadelle erbaute, hielt sich die Haie wie ein Rudel Wachhunde. Bis heute werden sie gefüttert und haben verlernt, sich von Menschen fernzuhalten. Sie sind daran gewöhnt, alles zu fressen, was rund um die Zitadelle ins Wasser fällt. Sie würden vielleicht sogar uns zu nahe kommen, obwohl Tiere die Nähe des Todes wittern und fürchten. Also halte dich dicht hinter mir!«
Der Weg führte über schmale in den Fels geschlagene Treppen, die nur für einen Menschen Platz boten, in schwindelerregende Höhen. Von oben sah das Haibecken noch gespenstischer aus. Und hinter einem weiteren Felsdom verborgen schimmerte etwas Goldenes hervor.
»Ist das … ein Schiff?« Das Echo flüsterte von allen Seiten auf Summer ein.
»Lady Mars Goldene Barke«, wisperte Beljén, ohne sich umzusehen. Dann schaltete sie die Taschenlampe aus. Es war beklemmend,
in der Dunkelheit weiterzugehen. Summer schätzte, dass sie zweihundert Stufen oder mehr nach oben geklettert waren. Ihre Finger glitten über eine abgerundete Backsteinwand, die rechts von ihr in die Höhe strebte. Ein sonores Brummen wie von Generatoren hallte irgendwo in der Ferne. Ihre Beine waren so schwer, dass sie sicher war, jeden Augenblick zu stürzen, aber sie biss die Zähne zusammen und tastete sich weiter nach oben wie in einem Fiebertraum. Dann hörte sie, wie Beljén vor ihr etwas flüsterte. Ein Rechteck aus Licht öffnete sich. Hände streckten sich ihnen entgegen und zogen sie in eine Halle aus purem Licht. Wasser plätscherte in der Nähe, und als Summer sich umblickte, sah sie einen riesenhaften, kunstvollen Brunnen aus gläsernen Muscheln, über die klares Wasser rann. Benommen blieb sie auf dem Rücken liegen und schnappte nach Luft. Bin ich … wirklich zu Hause? Doch es wollte sich keine Erleichterung einstellen. Und auch keine Freude.
»Na endlich!«, sagte eine weißhaarige Frau mit einer Maske aus schwarzem Ebenholz. »Bringt sie nach oben.«
tribunal
S ie konnte sich nicht erinnern, auf welchen Wegen man sie in das Zentrum der Zitadelle gebracht hatte. Zu viele Hände hatten sie berührt und getragen. Zu viele Gänge zweigten ab und zu viele Spiegel blendeten sie. Das Geräusch einer klackernden Fahrstuhlmechanik hallte noch in ihrem Kopf wider und sie glaubte auch das Meer gesehen zu haben. Nun fand sie sich in einem Saal wieder, der erstaunlich schlicht gehalten war. Die Wand, die sich um den kreisrunden Grundriss des Raumes schloss, bestand aus einer Art getöntem Glas, durch das man nicht nach draußen blicken konnte. Stattdessen spiegelte die dunkelgraue Oberfläche. Summer erhaschte darin einen Blick auf sich selbst: eine abgerissene Gestalt in schlammverkrusteten Hosen und einer Seemannsjacke. Die Elfenbeinmaske wirkte neben ihrem zerzausten, wirren Haar so fehl am Platz wie eine Kostbarkeit, die man achtlos zwischen Unkraut und Gestrüpp hatte fallen lassen.
Vielleicht war der Saal früher ein Altarraum gewesen. Zumindest schmückte den Boden ein schwarz-weißes Mosaik, das den heiligen Styx darstellte. Die silbernen Augen des Porträts schienen Summer vorwurfsvoll anzustarren. Die Lords und Diener,
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