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Ascheherz

Ascheherz

Titel: Ascheherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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getrennt worden war - feine Schnittlinien an den Schultern, an den Armen.
    »Ich weiß«, sagte die Herrin des Todes.
    Summer spürte kaum, wie Lady Mars Arme sich um sie legten, doch der Mantel aus Eintagsfliegenglanz kühlte ihre brennenden Male und linderte den schlimmsten Schmerz.
    »Ich … hatte auch einen Flügelmantel! Ich gehöre zu euch!«
    »Ja, du bist immer noch eine Zorya«, antwortete Lady Mar. Ihre Stimme klang nun wie Asche und Rauch, sanft und weich. »Jeder Mensch hat seinen Tod und ruft ihn bei einem Namen. Der Mantel befähigt uns, bei ihnen zu sein. Und zurückzukehren. Doch dich hat irgendjemand bestohlen.«
    Durch den Tränenschleier sah Summer die nächste Zorya in der Menge verblassen und wiederkehren. Ein Puls des Vergehens, von dem sie sich abgeschnitten fühlte.
    »Weißt du, wer es war?«, fragte Lady Mar.
    »Nein.«
    Lady Mar nickte, als hätte sie keine andere Antwort erwartet. Ihre Hände schlossen sich um Summers Gesicht.
    »Dann erinnere dich«, sagte sie mit rauer Stimme.
    Sie beugte sich vor und küsste Summer. Ihr Mund schmeckte nach Jahrtausenden verblühender Leben. Und Summer fiel wieder ein, dass der Kuss das wahre Element der Zorya war - um zu erkennen, zu beherrschen und zu beenden.
    Vorsicht! , warnte die Stimme der neun Leben sie. Es war nur ein winziges Echo, doch es hielt sie davon ab, sich ganz zu verlieren. Dennoch floss aller Widerstand aus ihren Muskeln. Ihre Lider wurden schwer. Und als Lady Mar flüsterte: »Zeig uns, was
geschehen ist. Wer hat dir das angetan?«, da wurden Erinnern und Erzählen eins.
    »Ich war … mit Beljén in einem Saal aus grauem Stein. Ein Schloss im Süden. Laken verdeckten die Möbel, wir lebten in leeren Räumen. Es war Spätherbst.«
    »Limanaj«, sagte die Lady. »Der Sommerpalast einer Königin, die mir damals diente. In jenem Jahr haben wir dort Quartier genommen. Und dann?«
    Irgendetwas in Summer sträubte sich. Als würde die Lady mit einer Taschenlampe in Winkel leuchten, die Summer vor ihr verbergen wollte. Verbergen musste. Aber warum?
    »Ich … weiß nicht«, murmelte sie.
    Hände in Samthandschuhen legten sich auf ihre Schultern. »Du weißt es«, sagte die Rauchstimme. »Denn du bist dort! Sieh dich um.«
    Summer wurde schwindelig. Der Raum drehte sich, und als sie die Augen wieder öffnete, war sie …
    … in einem Zimmer. Sie hieß Tjamad. Und Beljén war bei ihr. Ihre Masken lagen nebeneinander auf dem Fensterbrett und sie betrachteten einen Fuchs, der unter dem Fenster über die Wiese schnürte. Ein Schwarm von dunklen Faltern umgab Summer. Totenkopffalter. Sie wusste, dass sie nur ihr gehörten und dass Beljén sie nicht sehen konnte. So wie Tjamad die Feuerfalter ihrer Freundin nicht wahrnahm. Jede Zorya hatte ihren eigenen Schwarm, der sie ständig umgab.
    Lange bevor ihr Schwarm zu einer aufgeregten, schwirrenden Wolke wurde, hörte Tjamad den Ruf. »Lamaya!«, flüsterte die Stimme eines Mannes. Sie stand auf und lächelte Beljén zu, die kaum den Blick hob in der Gewissheit, dass Tjamad in wenigen
Momenten wieder zurückkehren würde. Und Tjamad hob die Arme, bis ihr Flügelmantel sich um sie schloss wie Blätter einer staubigen, noch geschlossenen Tulpe. Das Letzte, was sie sah, waren die winzigen Totenkopfmuster, die sich aus Tausenden samtiger Flügel zusammensetzten, dunkles und helles Braun - und Tupfen von Bernsteingold. Dann nahm der wohlvertraute Sog sie mit. Atem floss aus ihrem Mund, als würde sie mit hoher Geschwindigkeit durch Zeit und Raum gezogen. Und als sie wieder einatmete, fühlte sie unter ihren bloßen Sohlen nicht mehr das polierte Parkett, sondern spiegelglatten Marmor. Sie senkte die Arme und der Mantel fiel auseinander. In der Menschenwelt stand die Zeit still. Und vor ihr lag der Mann, der sie gerufen hatte, auf einem Bett, das einem Thronpodest glich, mitten in einem Festsaal.
    Es war seltsam, dass sie in der Erinnerung sein Gesicht nur als unscharfe Fläche wahrnehmen konnte. Aber sie wusste noch, dass er viel zu jung war, um den Alterstod zu sterben. Er war schwerkrank und litt an Fieber, das er nicht überleben würde.
    Durch den weißen Seidenschleier, der den Kranken vor den Blicken der Feiernden schützte, erkannte Summer die eingefrorene Szene, die sich im Raum abspielte: lachende Münder, Arme, im Tanz erhoben, Röcke im Schwung erstarrt. Musiker, deren Instrumente das Kerzenlicht reflektierten. Eine Gitarre mit Perlmuttintarsien, Violinen und Zimbeln. Blumen überall und

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