Ascheherz
stünde sie in einem elektrischen Feld. Und die zweite Wirklichkeit war so plötzlich da, als hätte jemand im Raum ein Licht eingeschaltet.
Vor ihr: die grauen Augen und Haut wie aus Glas. So durchsichtig, dass sie die Knochen des Schädels darunter sehen konnte. Zähne schimmerten durch die Oberlippe, Wangenknochen unter der transparenten, blutleeren Haut. Die Lady lächelte - ein verstörendes Doppelbild von Leben und Tod - und trat an Summers Seite. Mit einer Geste umfasste sie all die anderen Zorya im Raum. Alle griffen zu ihren Masken und nahmen sie ab. Und Summer sah .
Da war kein Schwarz mehr, keine Menschengewänder. Vor ihr standen die Todesboten in ihrer wirklichen Gestalt. Und die meisten - lächelten ihr zu! Geborgenheit hüllte sie ein wie eine Umarmung, als wäre alles, was sie von den anderen noch getrennt
hatte, aufgehoben. Summer schluckte schwer, um nicht zu weinen. Deshalb habe ich immer die Theater gesucht, die Gruppen. Doch nicht einmal die Verschworenheit einer Theatertruppe kam auch nur im Entferntesten der Verbundenheit nahe, die sie nun zu den anderen Zorya fühlte.
Sie betrachtete die Gesichter - ältere und jüngere. Nur vereinzelt waren es Männer, der Großteil bestand aus Frauen. Viele von ihnen waren von gewöhnlichen Menschen nicht zu unterscheiden, so wie Beljén. Aber es gab auch einige, die Lady Tod ähnelten. Gläserne Gestalten, Knochen unter durchsichtiger Haut. Anzej war nicht so fremdartig wie sie, und dennoch sah sie auch bei ihm einen Hauch dieser Verwandlung, die sie im Krähennest des Schiffes so verstört hatte.
Doch etwas hatten alle Zorya gemeinsam. Und mit dem Kummer, der plötzlich in ihrer Brust aufblühte wie eine Flamme, verstand Summer, was sie selbst in jeder Sekunde ihres Katzenlebens vermisst hatte, ohne es zu verstehen.
Jede Zorya besaß einen pulsierenden Flügelmantel.
Beljén war in einen irisierenden Glanz gehüllt. Sie anzusehen, schmerzte beinahe in den Augen. Tausende winziger Schmetterlingsflügel reihten sich aneinander zu einem kostbaren Mantel in Goldorange mit kleinen schwarzen Tupfen. Und Summer erinnerte sich, wie oft sie Beljén »Feuerfalter« gerufen hatte, nach dem Schmetterling, der ihr diese Farben lieh.
Tränen stiegen ihr die Augen, während sie sich umsah. Kein Mantel glich dem anderen. Da war Anzejs Libellenmuster, das matte Braun von Nachfaltern, das farbige Leuchten von Bläulingsflügeln.
Die weißhaarige Zorya, der die Ebenholzmaske gehörte, trug einen Mantel aus Tausenden von schwarz-weißen Schachbrettfaltern, was in Summer sofort die Erinnerung an Moira aufblitzen
ließ. Es gab die gelb geränderten dunklen Farben des Trauermantel-Falters, durchsichtige Diptera-Flügel und die schlanken Flügel von Wespen.
Eine Bewegung aus dem Augenwinkel erhaschte Summers Aufmerksamkeit. Ein Pulsieren in der Menge, das ihr vorher nicht aufgefallen war. Inmitten der anderen, die reglos dastanden, hob eine Zorya in einer langsamen Bewegung die Arme über den Kopf, kreuzte die Handgelenke. Der Mantel schloss sich vor ihr wie ein Vorhang, dann verblasste sie und verschwand. Ein, zwei Atemzüge lang blieb ihre Stelle leer, dann erschien sie wieder und ließ die Arme sinken. Die Erinnerung war so plötzlich wieder da, als hätte Summer es nie vergessen. Die Zorya war fortgegangen, um dem Ruf eines Sterbenden zu folgen. Der Mantel war es, der sie innerhalb eines Lidschlags zu den Sterbenden trug - durch Raum und Zeit, an jeden Ort der Welt.
Jetzt wallte der Schmerz so jäh in ihr auf, dass sie sich nicht einmal gegen ihn wappnen konnte. Er kam aus ihrem Inneren, das Begreifen eines Unrechts, eines Diebstahls, der sie in ihrem tiefsten Sein verwundet hatte. Sie rang nach Luft, so sehr glaubte sie an diesem Verlust zu ersticken. Und als sie sich von den Zorya abwandte, weil sie es nicht länger ertragen konnte, war da Lady Mar. Die Herrin des Todes war in den schillerndsten Hautmantel von allen gehüllt - hauchfeine, kaum sichtbare Flügel von Eintagsfliegen. Millionen mussten es sein, die sich zu dem transparenten Glanz verwoben. Das war zu viel.
Summer schlug die Hände vors Gesicht. Aus ihrem Inneren kam ein Laut, der kaum menschlich klang, das verdichtete Leid von zweihundert Jahren.
»Mein Mantel!«, schluchzte sie mit erstickter Stimme. »Er ist fort! Da sind nur noch … Wunden!«
Und als wäre der Albtraum erst durch diese Worte Wirklichkeit geworden, spürte sie die Stellen, an der ihr kostbarster Besitz von ihrem Körper
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