Ascheherz
die im Raum standen, hatten offenbar Ehrfurcht vor dem Heiligenbild. Sie achteten darauf, das Mosaik nicht zu betreten. Die Zorya
dagegen verschwendeten keinen Gedanken an diese Art von Respekt. Bloße Füße standen auf der Stirn des Heiligen, auf seinem eisgrauen Haar und den Schultern. Summer schluckte, als sie die unzähligen, ausdruckslosen Masken sah. Fünfzig mochten es sein, vielleicht auch hundert. Seltsam war, dass niemand von ihnen ein Wort sagte. Warum begrüßen sie mich nicht? Warum freut sich niemand, mich zu sehen?
Sie hörte keine Schritte, als die Menge sich teilte. Die Menschen verbeugten sich tief, nur die maskierten Gestalten blieben aufrecht stehen. Beljén legte den Arm um ihre Taille und drückte sie an sich.
»Fürchte dich nicht«, wisperte sie ihr zu. »Und falls doch, zeige es ihr nicht.«
Summer hätte ihr gerne geantwortet, dass es ihr leichter fallen würde, diesen Ratschlag zu beherzigen, wenn Beljéns Hand nicht so gezittert hätte, doch sie schwieg, als die Lady erschien.
Wie in Summers Traum hatte sie rotes lockiges Haar. Man hätte hinter der Eisenmaske ein junges Mädchen vermuten können, doch sie schritt mit der Zielstrebigkeit und Geschmeidigkeit einer Jägerin durch die Reihen. Summer zweifelte nicht daran, dass sie barfuß war, doch ihre Füße wurden von einem langen schwarzen Umhang verdeckt. Mit einem trockenen Rascheln schleifte er über das Mosaik. Auch die Hände waren verborgen - unter schwarzen Samthandschuhen.
Auf dem rechten Auge des Heiligen, mitten auf der silbernen Iris, blieb Lady Mar stehen. Ihre Augen - das einzige Lebendige in dem strengen Eisengesicht - schienen aus grauem Rauch zu bestehen und ihr Blick war wie ein Speer aus Eis. Summer ertrug ihn nicht und schlug die Augen nieder.
»Geht«, sagte Lady Mar. Ihre Stimme war scharf, ein Peitschenknall,
der im Raum nachhallte. Eiliges Scharren setzte ein, Schleifen von Stoff und Sohlen. Und als Summer ihren Mut zusammennahm und vorsichtig wieder aufblickte, hatten die Menschen den Raum verlassen. Nun sah sie sich nur noch der Front maskierter Gestalten in schwarzen Gewändern gegenüber. Wie eine Trauergemeinde , dachte sie mit einem Schaudern. Aber warum wirken sie so unbewegt? Ich gehöre doch zu ihnen! Plötzlich schnitt ihr das Heimweh wieder in die Seele, das überwältigende Gefühl, in diese Gemeinschaft zu gehören, und der Kummer darüber, dass sie trotzdem eine solche Distanz wahrten.
»Danke Beljén«, sagte Lady Mar nun ohne jede Spur von Freundlichkeit in der Stimme. Beljén zögerte sichtlich, doch dann ließ sie Summers Hand los und schritt mitten über Styx’ Kinn und Mund zu den anderen. In der Menge entdeckte Summer Anzejs grüne Maske. In seinen Augen konnte sie nicht lesen, ob er sie feindselig oder mitleidig ansah. Dann trat Lady Mar an sie heran und Summers Herz begann zu rasen. Die Todesfrau roch seltsam körperlos, nur etwas Ascheduft entströmte ihren Kleidern. Mit langsamen Schritten ging sie um Summer herum.
Summer konnte nicht anders, als an die Masken aus dem Theater und die Worte des Rezitators zu denken: »Und in die Umarmung von Lady Tod sank König Licht. Hinab in die Unterwelt, die darauf lauerte, das Feuer seiner Sonnenkrone auszulöschen.«
Plötzlich brach ihr der Angstschweiß aus. Sie suchte nach der Frau in Weiß, doch die hatte sich in irgendeinen Winkel ihres Inneren gekauert und gab keinen Laut von sich.
»Was siehst du, Tjamad?« Lady Mar war direkt vor ihr stehen geblieben. So nah, dass Summer den kalten Metallgeruch der Eisenmaske wahrnehmen konnte. Ließ unterdrückte Wut die Stimme so sachlich klingen?
Summer versuchte zu schlucken, doch ihre Kehle war so trocken, dass es schmerzte. »Masken«, brachte sie mit einem seltsamen Krächzen hervor. »Schwarze Gewänder.«
Sie wusste nicht, ob es ein gutes Zeichen war, dass die Zorya nun zu murmeln und zu flüstern begannen. Auf Lady Mars Wink verstummten sie. Summers Hände zuckten in einer instinktiven Abwehr nach oben, als die Lady nach ihrer Elfenbeinmaske griff. Doch sie besann sich und ließ es zu, dass die Todesfrau ihr die Maske abnahm. Ein Klappern ertönte, als das Elfenbein zu Boden fiel. Noch nie hatte sie sich so nackt gefühlt.
Dann nahm die Lady mit der behandschuhten Hand ihre eigene Maske ab. Es klirrte, als das Eisen über das Mosaik rutschte und dann schaukelnd liegen blieb.
»Und jetzt?«, fragte die Lady leise.
Summer blinzelte. Alle Härchen auf ihrer Haut sträubten sich, als
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