Ascheherz
ablenken.«
»Den Tod zu bringen?«
Beljén nickte und legte den Zeigefinger auf die polierten Bronzelippen ihrer Maske. Doch dabei zwinkerte sie Summer verschwörerisch zu. Wir waren trotzdem Freunde , dachte Summer. Und wir sind es noch. Wir haben beide nicht gehorcht. Und aus irgendeinem Grund musste sie lächeln.
Sie blickte sich um und versuchte zu erraten, auf welchem Boot sich der Blutmann befand, aber dann drückte Beljén auffordernd ihre Hand und deutete nach Norden. Und dann gab es nur noch die Zitadelle. »Hast du so etwas schon einmal gesehen?«, flüsterte Beljén.
Summer konnte nur stumm den Kopf schütteln. Sie hatte sich eine Festung vorgestellt, doch das, was sich an der äußersten Spitze der Halbinsel erhob, schüchterte sie ein und faszinierte sie im selben Atemzug. Eine gewaltige Wehrstadt, die wie eine bedrohliche Skulptur aus Glas, Stahl und poliertem Stein wirkte. Acht schlanke Hochhäuser ohne ein einziges Fenster strebten weiß und schwindelerregend hoch in den Himmel. Das Erstaunliche war ihr geringer Durchmesser - und die Tatsache, dass der Grundriss bei manchen Gebäuden wabenförmig zu sein schien. Die Mauern waren so blank, dass sich Himmel und Meer darin spiegelten. Das neunte Hochhaus in der Mitte war gedrungener und erinnerte eher an einen Turm. Es ragte am höchsten in die
Wolken. An seiner Spitze war ein Aufbau wie ein Rondell. Eine geometrische, zu gedrungene Tulpe, deren abgerundete Steinwände sicher irgendetwas Besonderes umschlossen. Als einziges Gebäude hatte es Fenster. Summer konnte den Kopf gar nicht so weit in den Nacken legen, um ganz nach oben blicken zu können. Allein die Festungsmauer, die direkt vor ihr aus der Steilküste emporwuchs, war sicher vierzig Meter hoch. Die Höhe der Häuser konnte sie nur schätzen. Hundertfünfzig Meter? Zweihundert? Vor dem Himmel mit den dahinziehenden Wolken sah es so aus, als würde die Wehrstadt innerhalb der Mauern schwanken.
Wie ein archaischer Gegensatz wirkte dagegen das unendliche Feld von Felszähnen, die aus dem Wasser rund um die Halbinsel ragten. Die Boote wurden nun nach einem komplizierten Plan hindurchmanövriert. Es war noch Ebbe, es roch nach Tang und Meeresboden. Doch die Strudel und Strömungen der einlaufenden Flut zerrten die Boote gefährlich nahe zu den Felsen. An einigen Stellen griffen die Soldaten zu den Rudern und hielten die Boote damit auf Sicherheitsabstand. Nach und nach entfernten sich die Patrouillenboote, bis nur noch das kleinste Boot im Sichtschutz von dreieckigen Felszähnen auf die Steilwand zusteuerte. »Fahren wir nicht mit ihnen?«, fragte Summer.
Doch Beljén schüttelte den Kopf. »Die Ebbe steht günstig. Wir nehmen den direkten Weg.« Der Motor wurde ausgeschaltet, dann nahm eine starke Strömung das Boot mit sich und steuerte es genau auf eine breite Felsspalte zu, die wie ein flaches Fischmaul aussah. Bei Flut hätte sie sicher ganz unter Wasser gelegen.
»Halte dich fest und duck dich«, sagte Beljén. Summer wurde flau im Magen, als das Boot in den Strudel gezogen wurde. Bevor sie gehorchte, warf sie einen letzten Blick zur Seite. Hatte sie nicht eben eine Haifischflosse im Wasser untertauchen sehen?
Doch das, was sie jetzt sah, war so unglaublich, dass sie sicher war, zu träumen. Mitten auf einem der gezackten Felsen kauerte ein Kind. Ein Mädchen. Höchstens sechs Jahre alt, mit wilden schwarzen Locken, die ihr wie ein geringelter Schmuck nass auf den Schultern und an der Stirn klebten. Ihre Augen waren von einem verstörend hellen, beinahe unmenschlichen Blau. Die Kleine starrte Summer ausdruckslos an, ohne ein einziges Mal zu zwinkern. Das Seltsamste aber war die Kleidung. Schuppen glänzten im Nachmittagslicht. Das Kind war mit Fischhaut bedeckt. Nur Gesicht und Hals waren bloß. Das Boot zog ruckartig zur Seite. Summer wurde gegen Beljén gedrückt. Und als sie sich nach dem Felsen den Hals verrenkte, war das seltsame Kind verschwunden.
»Hast du das gesehen?«, fragte sie. »Da war ein Mädchen!«
Im selben Moment wurde es dunkel, nur das Kribbeln in ihrem Zwerchfell gab ihr das Gefühl, zu fallen. Das Boot drehte sich im Schwung um sich selbst. Es roch nach gärenden Algen und Muschelschalen. Und alle Geräusche begannen zu hallen.
»Keine Angst«, sagte Beljén. »Wir sind gleich da.«
Ein Kegel von Taschenlampenlicht glitt über schwarze Muschelbänke und glatteres Wasser. Die huschenden Körper von Haien warfen Schatten auf den Steinboden tief unter der
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