Aschenputtelfluch
»Es war ein Fehler, sie mitzunehmen.« Ihre Zigarette glühte in der Dunkelheit.
»Genau! Dauernd stellt die Sturm diese blöden Fragen.« Das war unverkennbar Pinks Zischen. »Was wir nachts ma chen, wo wir uns herumtreiben, und irgendwann wird sie uns auf die Schliche kommen. Außerdem ist Miss Klug scheißer total scharf auf Nikolaj. Mann, ich weiß ja nicht, wie sie das macht, aber er hat nur Augen für sie. Sie ist ei ne Schlampe, verstehst du? Aber das ist jetzt vorbei.« Pink lachte laut. »Hast du seinen Blick gesehen, als wir die Ohr ringe bei ihr gefunden haben? Total geil! Unser Prinz will garantiert nichts mit einer Diebin zu tun haben.«
Ich rannte davon, immer nur das eine Wort im Ohr: DIEBIN!
KAPITEL 15
D raußen lief der Wind Amok und donnerte gegen die Fensterscheiben, die leise klirrten. Dennoch drangen durch die staubigen Scheiben einige Sonnenstrahlen, die ausreichten, um das Zimmer in ein verschwommenes Licht zu tauchen. Ich bildete mir ein, das Fensterkreuz an der gegenüberliegenden weißen Wand zeichne den Schatten eines riesigen Kreuzes.
Die Uhr auf meinem Nachttisch blinkte: 07:13 Uhr.
Ich hatte verschlafen.
Ein Blick auf die andere Seite zeigte mir, dass Meg be reits aufgestanden war. Natürlich hatte sie mich nicht ge weckt! Ich war ja eine Diebin – und was für Meg entschei dend war – , hinter Nikolaj her und daher eine Schlampe!
Ich musste aufstehen und diesen Tag überleben. Irgend wie.
Nein, nicht irgendwie! Ich musste die Dinge klären. Mit Nikolaj reden, mit ihm vor allem.
Das war mir klar geworden, als er gestern nicht auf dem Friedhof gewesen war. Egal, was er von mir dachte – ich musste es richtigstellen. Ihm konnte ich von Kiras Tage buch erzählen. Und der Geschichte mit dem iPod. Ihm konnte ich vertrauen. Konnte ich? Egal! Ich hatte keine an dere Wahl. Ich musste ihm vertrauen.
Ich horchte. Kiras Stimme? Sie schwieg.
Es gibt eine Chance, dachte ich. Eine winzige zwar, aber eine Chance.
Ich zog mich auf die Toilette zurück, schloss mich ein. Ein Segen für die Menschheit. Der einzige Ort, wo man un gestört sein konnte. Ich setzte mich und zog die Beine nach oben. Käme jemand herein, um mich zu suchen, soll ten meine Schuhe mich nicht verraten. Billige Stiefel von Deichmann. Superbequem, superbillig, superschön, aber ein absolutes Nogo in Ravenhorst!
Die Schulglocke wurde geschlagen. Schnell kritzelte ich die Nachricht auf ein Stück Papier, das ich aus dem Mathe heft riss: Muss dringend mit dir reden. Können wir uns im Computerraum treffen? 19:00 Uhr heute Abend! Jule!
Dann packte ich meine Sachen und rannte Richtung Klassenzimmer. Ich riss die Tür auf. Frau Sturm war be reits da. »Juliane, du weißt doch, dass wir heute die Mat hearbeit schreiben.«
»Frau Sturm«, erwiderte ich kühl, »gehen Sie doch ein fach davon aus, dass ich einen Grund habe, wenn ich zu spät komme.«
Sie starrte mich verwundert an. Ich schob mich auf mei nen Platz zwischen Emilia und der Nonne.
Die Hoffnung machte mich euphorisch. Ich würde mit Nikolaj reden! Ich hatte die richtige Entscheidung getrof fen! Aufgeregt wandte ich den Kopf nach seinem Platz.
Er war leer.
Er war nicht da!
Nervös blickte ich auf die Uhr. Zehn Minuten über der Zeit. Frau Sturm teilte bereits die Blätter aus. Nikolaj wusste doch, dass wir heute diese Arbeit schrieben. Warum war er nicht gekommen? Ausgerechnet heute? Ich spürte den Zettel in meiner Hand und knüllte ihn vor Aufregung fester zusammen.
»Ihr habt fünfundvierzig Minuten Zeit.«
Allgemeines Stöhnen und Papierrascheln folgten.
»Aber Sie haben ewig gebraucht, um die Blätter auszu teilen.« Bastian versuchte zu verhandeln.
»Jetzt nur noch vierundvierzig Minuten und dreiund dreißig Sekunden«, erwiderte die Sturm resolut.
Ich beugte mich über das Angabenblatt. Die Aufgaben verschwammen vor meinen Augen.
Sinus, Kosinus – es hätten genauso gut Namen von In seln in der Antarktis sein können. Zumindest war mir plötzlich kalt. Eiskalt.
»Nur zu eurer Information: Ihr habt noch dreißig Minu ten und zweiundzwanzig Sekunden«, drang die Stimme von Frau Sturm in mein Bewusstsein. Ich hatte noch keine einzige Aufgabe gerechnet.
»Wo ist Nikolaj?«, flüsterte ich Emilia zu, deren dunkler Haarschopf über dem Papier hing.
»Keine Ahnung.«
Ich hob den Kopf. Frau Sturms Augen waren auf mich ge richtet. »Es wird nicht geredet! Nur noch neunundzwanzig Minuten und achtundfünfzig Sekunden!«
Ich begann, zu rechnen und
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