Aschenputtelfluch
uns zu, als wolle sie uns gewaltsam trennen.
»Sag mal, hast du meine Ohrringe gesehen?«
»Was für Ohrringe?«
»Du weißt genau, welche.«
Ehrlich, im ersten Moment hatte ich keinen blassen Schimmer, wovon sie sprach.
»Die von Swarowski.«
»Ach so!« Ich erinnerte mich an den Christbaumschmuck an ihren Ohren, den sie an unserem zweiten Tag im Inter nat getragen hatte. »Nein, wieso sollte ich?«
»Na, du hast sie doch bewundert.«
»Na und?«
»Sie lagen in meinem Zimmer auf dem Nachttisch.«
»Ich war nicht in deinem Zimmer.«
»Lenk nicht ab«, Sonjas Stimme klang schrill wie die Tril lerpfeife der Krassnitzer.
»Ich weiß nicht, was du . . .«
Etwas in ihrem Blick ließ mich stocken.
Mir wurde plötzlich komisch zumute. Ich lief rot an.
»Und warum wirst du rot? Was? Warum?«
Sie schrie jetzt so laut, dass einige Schüler stehen blieben.
»Sonja«, meinte Nikolaj ruhig, »was soll das Theater?«
»Theater?«, giftete diese. »Ich mache Theater? Ehrlich, Nick...ich weiß nicht, warum du immer mit ihr herum hängst. Die ist doch Assi!«
Assi.
Dieses Wort.
Es klang in meinen Ohren nach wie ein Echo. Assi, Assi, Assi. Ein seltsames Unbehagen machte sich in mir breit, überrollte mich wie eine Welle. Mein Magen krampfte sich zusammen.
»Du hast sie genommen. Ganz bestimmt.« Sonja schluchzte laut. Fast schon hysterisch.
Ich ahnte, was das bedeutete. War mir so sicher, wie ich wusste, dass die Sonne jeden Tag aufging. Jetzt spielte ich die Rolle von Aschenputtel. ICH war Cinderella.
»Nein«, versuchte ich, mich zu wehren, aber ich war so verwirrt, dass ich es mehr stammelte. Kurz, ich wirkte in keinster Weise überzeugend. Mein Herz schlug bis zum Hals, ich bekam keine Luft und mir wurde kotzübel. Um dagegen anzukämpfen, biss ich mir auf die Lippen und presste die Arme ganz fest an meinen Körper, als verstei nerte ich in innerhalb von Sekunden.
Es war echt gruselig, aber wieder hörte ich Kiras Stimme wispern. Pass auf! Sie führt etwas im Schilde. Du hast gelesen, was mir passiert ist.
Ich wollte hier weg. In mein Zimmer. Hatte nur eine Chance. Ich musste nach den Ohrringen suchen.
»Ich glaube, ich muss mich übergeben«, murmelte ich und rannte los.
Das Zimmer war leer. Ich stürzte auf die Tasche mit mei nen Kosmetika und Waschutensilien. Konnten die Ohrrin ge hier sein?
Ich riss alle Sachen aus der Tasche, warf sie zu Boden. Von der Niveacreme sprang der Deckel ab und rollte un ters Bett.
Die Ohrringe waren nicht da. Ich war erleichtert, als ich das feststellte. Aber der Moment dauerte nicht lange. Es war nur die Ruhe vor dem Sturm.
»He, schaut, was sie macht. Sie will sie verstecken, bevor wir sie finden.« Das war Pinks Stimme. Ehrlich, das Zi schen einer Kobraschlange war dagegen Mozart. Sie kam ans Bett und stieß mich zur Seite. »Du fasst hier nichts mehr an.«
Sie riss die Bettdecke zu Boden.
»Das sind meine Sachen!«
Pink öffnete den Schrank.
Es passierte genau das, was Kira in ihrem Tagebuch be schrieben hatte. Nur dass Kira tot war und nun war ich an der Reihe.
Es war so unwirklich! Als ob ich gar nicht richtig da wäre. Ich spürte nur die tausend Stiche in meiner Brust. Sie bohrten sich wie winzige Nadeln durch die Haut, schoben sich durch die Rippen, zielten genau auf mein Herz, das in sich zusammenzufallen schien. Mir kam es vor, als hörte ich auf zu atmen, während ich gleichzeitig Luft holte. He, ich bin nicht Kira, wollte ich schreien, ich bin Jule. Ich habe nichts getan, hört auf, ich . . .
»Na also«, erklang Pinks Stimme.
Unheimlich war es, wie sie mit angewiderter, geradezu angeekelter Miene langsam die Hand hob. Etwas glitzerte zwischen ihren Fingern. Sie kam ganz dicht an mich heran.
»Und«, zischte es aus ihrem rot bemalten Mund, »was ist das hier?«
»Nein«, ich schüttelte den Kopf, ganz langsam, geradezu vorsichtig, als könnte er zerbrechen, als müsste ich vor sichtig sein, verdammt vorsichtig. Ich fühlte mich schul dig, obwohl ich keine Schuld hatte. »Ich habe nichts ge macht.«
»Aha, und das sind wohl deine Ohrringe?«
Bevor ich noch wirklich nachdachte, sagte ich bereits: »Ja, die habe ich mir gekauft, weil mir die von Sonja so gut gefallen haben.«
Im nächsten Moment stürzte schon Sonja auf Pink zu und riss ihr die Ohrringe aus der Hand. »Sie lügt«, schrie sie. »Sie lügt wie gedruckt. Hier sieht man noch den Kleb stoff, mit dem meine Mutter den Stein wieder eingeklebt hat, weil er herausgefallen ist.«
Ich habe
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