Aschenputtelfluch
keine Chance, begriff ich plötzlich – und: Das war der Anfang vom Ende.
Was dann gesprochen wurde, hörte ich nur aus der Fer ne. Etwas von Ruhe bewahren und Lehrer informieren.
»Lehrer?«, schnaubte Pink. »Das ist Diebstahl! Ein Fall für die Polizei!«
»He, mach mal halblang. Wir sollten das erst einmal un tereinander klären.«
Es war Nikolaj.
Er war da.
Er hatte alles mitbekommen.
Aus! Vorbei!
Ich schaute mich um. Versuchte, in den Gesichtern zu le sen. Kein Zweifel, sie behaupteten tatsächlich, ich hätte die se Ohrringe gestohlen. Mann, wollte ich sagen, die sind doch potthässlich! Ich trage keine Ohrringe! Ich hasse ROSA!
Aber sie hatten ihr Urteil gefällt.
»Vielleicht hast du recht«, sagte Pink langsam. War ich die Einzige, die das hämische Grinsen in ihrem Gesicht re gistrierte?
»Du meinst also, Nick, wir sollten selbst das Jüngste Ge richt abhalten?«
Nikolaj sah blass aus, schwarze Ringe lagen unter seinen Augen – und das Allerschlimmste – , kein einziger Blick streifte mich. Er konnte doch nicht glauben, ich hätte tatsächlich Sonja bestohlen.
Oh Gott, mein Herz – es blieb fast stehen, als er nun an Pink gewandt erwiderte: »Das Jüngste Gericht? Mein Gott, Pink! Manchmal hast du wirklich einen grässlichen Hang zur Dramatik.«
»He, sie ist eine Diebin. Wir müssen etwas unterneh men. Sie denkt wohl, sie kommt damit durch, nur weil ihr Vater ein Bulle ist.«
»Es ist eine Sache zwischen Sonja und Jule. Sie müssen das erst mal miteinander klären. Vielleicht war es doch ein Versehen . . .«
Erleichterung überfiel mich. Nikolaj vertraute mir – doch seine Augen wichen meinen immer noch aus. Nein, er ignorierte meine flehentlichen Blicke und im nächsten Moment sagte er: »Doch wenn es kein Versehen war, muss Jule ihre Strafe erhalten, aber die wird Sonja be stimmen, nicht die Polizei, die Lehrer und schon gar nicht du, Pink.«
Meg kam ins Zimmer. Sie beachtete uns nicht. Doch sie ließ Nikolaj nicht aus den Augen, als sähe sie etwas, das uns verborgen blieb.
»Du siehst nicht gut aus, Nikolaj.«
»Danke für das Kompliment.« Seine Stimme schwankte kurz.
»Mann, Nick, mach keinen Scheiß. Du solltest wirklich zum Arzt gehen.«
KAPITEL 14
A n diesem Abend flüchtete ich mit dem Laptop in den Computerraum. Bis auf zwei Schüler aus der Zwölften war er leer. Ich rief Kiras Tagebuch auf. Meine Gedanken kreis ten nur um einen Punkt: Ich wollte wissen, was weiter pas sierte. Ich wollte vorbereitet sein und dafür musste ich die Pläne der anderen kennen.
Kiras Tagebuch
Eintrag No. 21
Das gequälte Heulen des Windes draußen könnte aus meinem Inneren kommen. Zu behaupten, ich sei deprimiert, wäre die Untertreibung des Jahres. Deprimiert, das ist ein Zustand, von dem man weiß, dass er existiert, und irgendwann wird er schon wieder verschwinden. Ich bin nichts, genauer gesagt fühle ich nichts. Wäre ich wenigstens unglücklich, verzweifelt, am Boden zerstört, dann könnte ich herumschreien, irgendetwas kaputt machen, einfach blindlings losschlagen, mit den Fäusten auf jemanden oder irgendetwas losgehen. Aber in mir ist nicht einmal die Ruhe vor dem Sturm, da ist das große Nichts. Einfach Totenstille. Als hätte man mich abgeschaltet, mich einfach außer Betrieb genommen.
Mir fehlt sogar die Kraft, das hier alles aufzuschreiben. Mir zittert immer noch die Hand. Dabei ist das Ganze bereits gestern Abend passiert. Aber jetzt bin ich allein im Zimmer und das Tagebuch ist der Einzige, mit dem ich reden kann, reden will. Eigentlich bin ich das Tagebuch, also rede ich mit mir selbst. Ist das nicht das sichere Zeichen dafür, dass etwas mit mir nicht stimmt? Dass mein Verstand die falsche Spur benutzt? Wie der Geisterfahrer auf der Autobahn?
Manchmal habe ich das Gefühl, Oma hat recht und wir sind nur auf der Erde, um bestraft zu werden für unsere Sünden.
Vielleicht war das, was dann passierte, die Strafe, dass ER mich geküsst hat?
Ich schloss die Augen. Wilde Gedanken wirbelten nur so in meinem Kopf herum. Im Computerraum, der im Keller lag, war es stickig, die Luft zum Schneiden dumpf.
Ich wollte schreien! Es war so ungerecht! Verdammt noch mal, ich hatte die Ohrringe nicht geklaut! Ich trug keine rosa Ohrringe. Hatte das niemand bemerkt? Nicht einmal Nikolaj!
Du weißt doch, dass es darum gar nicht geht , hörte ich Kiras Stimme. Ihr Mund lag nun nicht mehr auf meinem Ohr, sie war in meinem Kopf angekommen. Sie wollen dich fertig machen, wie sie mich
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