Aschenputtelfluch
kitschige Geschichten flüchtete. Warum auch nicht? Vielleicht war ich gar nicht so intelligent, wie immer alle behaupteten. Vielleicht befand ich mich nur, was meine intellektuellen Fähigkeiten betraf, auf dem Stand von Albert Einstein, während mein Gefühlsleben die Barbiephase noch nicht überwunden hatte.
Und dann... nein, es klopfte nicht, sondern Frau Sturm – auch ihr Name ist Programm – stürmte ins Zim mer, als handele es sich um einen Feueralarm und sie müs se mich retten.
»Was machst du hier?«
Blöde Frage, es war offensichtlich, dass ich las und das war ja nun wirklich kein Verbrechen.
»Du liest?«, fragte sie. Aus ihrer Stimmlage sprach nicht Entsetzen und Mitleid über die erbarmungswürdige einsa me Schülerin, sondern blankes Entsetzen, dass ich be wusst und mit Vorsatz das harmlose Vergnügen eines Schulballes boykottierte.
»Ist das ein Verbrechen?«
»Du sollst dich nicht absondern. Du bist nicht nur auf grund deiner schulischen Leistungen hier auf dem Inter nat, sondern um soziale Kontakte zu schließen.«
Zu diesem Thema hätte ich ihr gerne einen langen Vor trag gehalten, aber stattdessen murmelte ich: »Keine Lust.«
KEINE LUST!
Erwachsene hassen diese beiden Worte. Sie reagieren immer – ja immer allergisch darauf.
»Keine Lust gibt es nicht«, erklärte Frau Sturm erwar tungsgemäß.
»Ich habe nichts anzuziehen.«
»Darüber solltest du dir keine Gedanken machen.«
Klar, wer über vierzig ist, kann täglich mit Jeans, weißem T-Shirt und schwarzem Pullunder herumrennen. Kein Schwein interessiert sich dafür. Aber ich war erst sechzehn und besaß weder Strapse noch halterlose Seidenstrümpfe noch einen Push-up, noch goldenen Lidschatten noch Lo cken, die ich zu Vogelnestern auftürmen konnte, noch Pumps, um in der Aula den großen Auftritt hinzulegen.
»Ich wollte lernen«, fiel mir ein.
»Diese Note in Mathematik hat nichts zu bedeuten. Sie ist beunruhigend, aber kein Grund, sich auszuschließen. Und genau diesen Eindruck vermittelst du den anderen, wenn du dich hier in dein Zimmer verkriechst, um zu ler nen. Kein Wunder, wenn die anderen dich ausschließen.«
Das hatte Supernanny also endlich bemerkt.
»Also«, sie schloss das Fenster, ». . . dann gehst du nun in die Aula wie alle anderen und feierst.«
Und was machte ich? Ich erhob mich und streifte meine Schuhe über. Wie ein Schaf, dachte ich und Frau Sturm kommentierte das Ganze zufrieden: »Na also. Und keine Sorge: Es geht hier ja schließlich nicht um einen Modell wettbewerb, sondern darum, soziales Miteinander zu er leben.«
He, hätte ich am liebsten gesagt – Modellwettbewerb – das IST soziales Miteinander. Wir nehmen an einem stän digen Casting teil. Unser Leben heißt Wettbewerb. Die Schönste, die Beste, die Klügste, die Sportlichste. Alles durfte man sein – nur eines nicht – Durchschnitt.
Ich seufzte und folgte ihr den Flur entlang. Wenn doch nur Nikolaj auf dieser Party wäre! Dann könnte ich mit ihm reden und alles würde gut werden. Oder verstieg ich mich da genauso in einen Wunschtraum, wie ich mich in kitschi ge Bücher flüchtete?
»Wie geht es Nikolaj?«
Frau Sturms ernster Gesichtsausdruck war beunruhi gend. »Unverändert.«
»So schlimm?«
Sie gab keine Antwort, was nicht gut war. Ganz und gar nicht.
»Kann ich ihn besuchen?«
»Nein.«
»Aber . . .«
»Nichts aber! Er bekommt ständig Besuch, damit ist jetzt aber Schluss. So kommt er nie zur Ruhe . . .«
Hat er nach mir gefragt? Wie gerne hätte ich diese Frage gestellt, aber ich schwieg.
Er bekommt ständig Besuch – die Worte hallten in mir nach. Ja, dachte ich, aber nicht von mir.
Das Schulfest hatte bereits um sieben Uhr begonnen. Jetzt war es kurz nach acht. Das Schlimmste: Ich betrat die Aula im wildesten Getümmel zusammen mit den Outlaws, also de nen, die man Assi, Psycho oder Freak nannte. Also die Non ne, die Fledermaus und ich. Uns alle hatte die Sturm aus unseren Zimmern gezerrt. Wir waren der Bodensatz des In ternats. Der einzige Trost war, dass die Party bereits voll im Gange war, was bedeutete, dass niemand uns beachtete.
Vermutlich hätte es mir in dem Getümmel gefallen, wenn ich gut drauf gewesen wäre. Sich so richtig in die Musik fallen lassen, schwitzen, seltsame Verrenkungen machen, eng umschlungen tanzen – plötzlich kam es mir vor, als ob es das für mich nur in einem anderen, einem früheren Leben gegeben hätte.
»Na«, meinte Emilia, die mit einem aus der zwölften Klasse tanzte,
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