Aschenputtelfluch
noch ei nen Meter entfernt.
»Das wollte ich nicht«, hörte ich sie weinen. »Ich wollte es nicht!« Sonjas Stimme klang zittrig, als bräuchte sie alle Kraft, um überhaupt ein Wort zu sagen. Der hysterische Ton in ihrer Stimme, sonst typisch für sie, war verschwunden.
»Es ist okay! Ich helfe dir.«
»Warum du?«
Was für eine seltsame Frage, dachte ich, als ob das eine Rolle spielte.
Aber Sonja hörte nicht auf. »Es tut mir leid! Es tut mir leid! Ich habe nichts gegen dich!«
»Ich weiß«, versuchte ich, sie zu beruhigen.
»Du wirst fallen und ich bin schuld! Warum bin ich nicht gesprungen? Warum nicht?«
Ich hörte nicht hin, was sie alles sagte, konzentrierte mich darauf, dass meine Füße Halt fanden. Nichts anderes war wichtig.
Und dann hatte ich endlich den Turm erreicht. Erschöpft lehnte ich mich gegen die Wand. Dann hob ich den Kopf in Sonjas Richtung und rief: »Gib mir die Hand und klettere zu mir herunter.«
»Ich kann nicht.«
»Ich halte dich!«
»Nein!« Sie schüttelte den Kopf.
»Wir können hier nicht bleiben, es ist zu gefährlich, wir müssen zurück.«
»Nein!«
Sonjas Finger krallten sich an die Holzverkleidung des Glockenturmes. Ihr Gesicht nass vom Regen, der an Stärke zugenommen hatte, und von Tränen, die unaufhörlich flossen.
»Du musst nur kurz loslassen. Nur mit einer Hand!«
»Nein!«
Ich beugte mich kurz nach vorne, verlor das Gleichge wicht und rutschte einen halben Meter nach unten. »Deine Hand, sonst falle ich, verdammt noch mal, zieh mich hoch!«
Sie ließ das Holzgerüst los! Sie ließ es tatsächlich los! Ih re linke Hand streckte sich mir entgegen.
Meine Finger klammerten sich an Sonjas, während mei ne Füße Halt suchten. Nur einen Moment, sagte ich mir. Du musst jetzt für eine Sekunde alle Kraft zusammenneh men und dich nach oben bewegen, dann hast du es ge schafft, bevor sie loslässt.
Und dann saß ich neben ihr.
Wie viel Zeit verging?
Wie lange saßen wir so, eng aneinandergeklammert?
Mein Atem beruhigte sich nur langsam. Ich presste den Kopf fest gegen die Mauer, bis die Kälte mir den Rücken hinunterkroch und das Rasen meines Herzschlages keine Chance hatte gegen die Erstarrung, die sich in mir ausbrei tete.
Das Schluchzen an meiner Seite hatte aufgehört.
Irgendwann begann Sonja zu sprechen: »Ich war es, ver stehst du? Ich habe dem Vogel den Kopf abgeschnitten und auf dein Kopfkissen gelegt. Es war schrecklich! Ein fach schrecklich!«
»Warum hast du es dann gemacht?«
»Pink hat mich gezwungen.«
»Was, verdammt noch mal, habe ich ihr eigentlich ge tan?«
Für einen Moment herrschte Schweigen. Nur der Wind war zu hören.
»Du hast uns verraten! Man kann dir nicht vertrauen!«
»Kein Wort habe ich verraten!«
»Ich habe gesehen, wie du mit der Sturm geredet hast. An dem Abend kam sie zu Meg und hat sie gewarnt. Wenn sie uns beim Klettern erwischt, meinte sie, dann fliegen wir alle vom Internat!«
»Die Sturm ist schlauer, als ihr denkt. Aber warum machst du, was sie sagen?«
»Sie haben mir gedroht. Entweder du oder ich! Aber ich muss doch hierbleiben. Ich kann nicht nach Hause zurück.«
»Warum?«
Ihre Finger ließen meine los und sie presste beide Hän de auf ihre Ohren. »Ich bin nicht freiwillig hier. Meine El tern haben immerzu auf mich eingeredet, immerzu. Ver stehst du, ich bin ein Versager.«
»Niemand ist ein Versager.«
»Meine Schwester, sie schafft alles und ich nichts. Nichts. Nicht einmal von diesem verdammten Dach kann ich mich stürzen.«
»Hast du es ihnen erzählt?«
»Wem?«
»Trixie und Pink. Hast du mit ihnen darüber gesprochen, dass deine Eltern dich ins Internat gesteckt haben?«
»Ja, und sie haben gesagt, ich müsste meinen Eltern eben beweisen, dass ich kein Loser bin.«
»Indem du aufs Dach kletterst?«
»Immer wieder haben sie darüber geredet, das Leben sei ein Dschungelcamp. Nur der Stärkste überlebt, aber...«, murmelte sie, ». . . nur überleben genügt nicht.« Aus Son jas Stimme war alle Schwäche verschwunden. Sie klang so entschieden, dass ich fürchtete, sie würde plötzlich sprin gen, bevor ich sie daran hindern konnte.
»Im Augenblick will ich nichts anderes«, murmelte ich. »nur überleben.«
Sie schwieg. Aber nicht, weil ihr nichts einfiel, sondern sie wusste nicht, wie sie es sagen sollte.
»Bastian!« Die Erkenntnis traf mich wie ein Blitzschlag! Sie war nicht hier oben, weil sie mich gequält hatte, son dern wegen Bastian!
»Ich kann nichts dafür. Ich . . .«,
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