Aschenputtelfluch
Ich steckte in diesem Tag wie in einer Endlosschleife. Und wie um mich zu vergewissern, dass seit Sonjas Verschwinden nicht mehr als fünfundvierzig Minuten vergangen waren, blickte ich nach oben auf die vergoldeten Zeiger der Turmuhr – tatsächlich Viertel vor neun.
Im nächsten Moment erschreckte mich ein lauter Schlag. Nicht mehr als zwei Meter vor mir schlug ein Stein auf dem Pflaster auf, zerschellte in unzählige Teile. Mein Herz hämmerte los. Ich holte tief Luft. Ein, zwei Schritte weiter vorne und – verdammt! – der Stein wäre mir auf den Kopf geknallt!
Ich starrte die Reste an, fixierte sie genau – schwarze, spitze Scherben lagen verstreut auf dem Pflaster. Das war kein Stein, sondern . . . mein Blick ging langsam die Kirche nach oben und blieb am schwarzen Schiefer hängen. Ein Ziegel hatte sich im Dach gelöst.
Die Stille über dem Hof war stiller, als man es sich vor stellen konnte. Nicht ein Windhauch regte sich und auch der Regen fiel lautlos. Vielleicht hörte ich auch nichts, weil das Blut laut in meinen Ohren rauschte. Ein roter Fleck zeichnete sich oben auf dem dunklen Dach ab. Im ersten Moment glaubte ich, es handele sich um Blut, das vom Dach tropfte. Und seltsamerweise wäre ich froh darüber gewesen. Es wäre mir nicht so absurd erschienen wie das, was ich tatsächlich sah. Ein Mensch war dort oben. Je mand, der einen roten Pullover trug.
»Scheiße«, flüsterte ich. »Verdammte Scheiße!«
Ich atmete schnell und flach, schluchzte fast.
Dann rannte ich los.
Was hatte Nikolaj damals in jener Kletternacht gesagt? Es gab eine Treppe, die hoch in den Dachstuhl führte. Und eine Luke zum Glockenturm!
Indi? Während ich die Eingangstür zur Kirche aufstieß und meine Schuhe auf den kalten Steinen laut klackten, gerieten meine Gedanken in einen Strudel: Konnte es sein? Konnte es wirklich sein? Die letzten Worte in Kiras Tagebuch drängten sich in meine Gedanken:
Werde ich die Kraft haben zu springen?
Oder nicht!
Aber ich brauche ja gar keine Kraft mehr. Das ist das Schö ne. Ich muss mich einfach nur fallen lassen.
Ja, ich habe Angst!
Aber ich freue mich auch!
KAPITEL 22
D ie Tür hoch zum Turm, die Nikolaj erwähnt hatte, stand weit offen. Durch sie gelangte ich in einen kleinen Flur, von dem rechts eine schmale Treppe abzweigte. Von oben strömte kalte Luft über die Stufen, meine Schritte polter ten auf dem uralten Holz.
Je höher ich kam, desto modriger roch es. Und nach dem ersten Treppenabsatz wurde es zunehmend düsterer. Es lag an den Fenstern, die immer schmaler wurden, und den Wolken, die sich am Himmel zusammenballten. Ich hielt kurz inne, um Luft zu holen, doch im nächsten Moment rannte ich bereits weiter. Die Stufen wurden schmal, sie waren so ausgetreten, dass ich fast ausrutschte. Enger und enger schraubte sich die Wendeltreppe in die Höhe.
Und wenn ich zu spät kam?
Meine Kehle wurde eng, mein Herz hämmerte lauter als meine Schritte auf den Stufen.
»Verdammt, verdammt, verdammt!«, fluchte ich leise und begann zu beten. Na ja, nicht wirklich, aber auf jedes Verflucht folgte Lieber Gott, hilf! Mach... ja, was verdammt noch mal? Was sollte er tun? Was konnte ICH tun? Scheiß egal! Irgendwas!
War das Indi da oben? Und wenn ja, würde er springen?
Wie Kira?
Weil ich ihn beschuldigt hatte?
Die Schieferplatten des Daches waren nass und rutschig vom Regen. Jede Bewegung konnte dazu führen, dass er abrutschte, das Gleichgewicht verlor und . . . Vielleicht war es bereits zu spät!
Die Muskeln in meinen Waden verkrampften sich und ich spürte, wie meine Kraft nachließ. Wenn ich das hier überlebte, würde ich mich von Mrs Feldwebel durch die Halle jagen lassen, so oft sie wollte. Man wusste nie, wo für man Kondition und Ausdauer brauchen konnte.
Atmen. Immer atmen!
Das Geländer krampfhaft umklammert, stieg ich nach oben. Mir schien, als ob die Zwischenräume der schwan kenden Holzstufen auseinanderdrifteten. Ein falscher Schritt und meine Füße würden sich dazwischen verhaken. Jeder Blick nach unten bedeutete nichts als atemlose Tiefe.
Und dann begannen die Glocken im Türmchen zu schla gen.
Neun Uhr!
Erst leise und dann immer lauter. Die Wände dröhnten von dem Gebimmel wider.
Der Lärm ging mir durch und durch.
Dann nur noch zwei Stufen.
Eine.
Ich hatte es geschafft und fand mich in einem dunklen, engen Gang wider. Ein wackliges Geländer sicherte Holz bretter ab, die mir morsch erschienen.
Staub lag in der Luft und schräg links tropfte
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