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Aschenwelt

Aschenwelt

Titel: Aschenwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timon Schlichen Majer
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hatten ihr ganzes Leben noch vor sich. Und dann kommt einer und macht das alles mit einem Schlag zunichte. Nur weil er selbst nicht mit sich klar kam – weil niemand mit ihm klar kam – unnahbar – aggressiv – verletzlich – eben alles zugleich und doch nichts.«
    Jo hielt ihren Blick auf Nadeschda und versuchte, zu verstehen, was sie ihr mitteilen wollte.
    Â»Niemand wusste, wie es in ihm wirklich aussah«, sagte Nadeschda. »Bis er alle getötet hat. Dann wollte man mit ihm reden. Aber da war es zu spät. Zu spät.«
    Jo legte ihre Hand auf Nadeschdas Haare und strich darüber. Wie sie zitterte.
    Nadeschda schaute Jo lange in die Augen, ohne etwas zu sagen. Bleich, rot geweinte Augen.
    Â»Mein Bruder«, begann sie, »mein Bruder wurde nicht getötet.«
    Jo kniff die Augen zusammen.
    Â»Er hat sich selbst getötet, nachdem …« Nadeschdas Stimme versagte.
    Jo starrte Nadeschda an. Sie begriff nicht sofort, was Nadeschda ihr gerade gesagt hatte. Ein Teil von ihr konnte es nicht begreifen, weil es zu groß war, nicht fassbar. Ein anderer Teil verstand sehr wohl, was Nadeschda ihr soeben mitgeteilt hatte, wollte es aber nicht wahr haben.
    Â»Mein Bruder«, sagte Nadeschda. »Er hat Anne getötet.« Darauf sank sie in sich zusammen.
    Jo blieb starr. Sie hörte den letzten Satz und hörte ihn doch nicht. Er hat Anne getötet. Vier einfache Wörter und doch so schwer zu begreifen.
    Nadeschda hielt ihren Kopf gesenkt, als wagte sie es nicht, Jo in die Augen zu sehen. Ihr Bruder der Mörder, das Monster, das so viele Leben auf dem Gewissen hatte, der sinnlos und wahllos jeden getötet hatte, der ihm an jenem Tag über den Weg gelaufen war. Elf Schülerinnen und vier Lehrerinnen und am Ende sich selbst. Was sollte sie sagen? Was denken? Es war zuviel. Ihr Gehirn fühlte sich an wie eingekochte Marmelade. Alle Gedanken blieben darin kleben und gelangten nicht mehr an ihr Ziel. Nicht einmal einfachste Bewegungen konnte sie mehr ausführen.
    Â»Es tut mir so leid, so leid«, schluchzte Nadeschda, ihr Gesicht immer noch verborgen.
    Â»Du bist …« Jo schluckte einen Kloß hinunter. »Du bist nicht schuld. Es war dein Bruder. Nicht du.« Ihr Verstand sagte ihr das, ihr Herz sagte gar nichts.
    Â»Ich weiß das.« Nadeschda hob ihren Kopf und warf Jo einen zaghaften Blick zu. »Ich weiß das, weil mir das seit Jahren immer und immer wieder gesagt wird. Aber ich weiß es besser. Wir alle tragen Mitschuld an dieser Katastrophe. Am meisten meine Eltern und ich. Es gab Hilferufe von ihm. Verstehst du? Er hat um Hilfe geschrien. Aber wir haben ihn nicht gehört. Wir waren taub, wir waren blind. Erst seinen letzten, großen Hilferuf – den haben wir gehört. Aber da war es bereits zu spät.« Sie machte eine Pause und schloss ihre Augen.
    Jos Gehirn war immer noch eingedickt. Die Impulse flossen zäh hin und her. Nadeschdas Bruder Annes Mörder – bislang war das Begreifen, was das bedeutete, in weiter Ferne.
    Â»Als ich gehört habe, was geschehen ist«, fuhr Nadeschda fort, »das war noch in der Schule. Wir hörten davon. Alle waren in Panik. Und dann wurde ich abgeholt. Ich weiß nicht mehr, wer das war. Vieles von dem Tag weiß ich nicht mehr, wie ausgelöscht, ein verblasster Albtraum. Sie brachten mich nach Hause, zu meinen Eltern. Dort war Polizei, viel Polizei. Und noch andere Menschen.
    Was wirklich geschehen war, sickerte erst nach und nach durch. Mit voller Wucht wurde es mir erst bewusst, als wir zu dritt am Grab meines Bruders standen. Ein Pfarrer war noch dabei, sonst nur wir – meine Eltern und ich. Und wir trauerten um ihn. Egal, was er getan hatte. Wir hatten ihn geliebt. Sehr sogar. Aber anscheinend nicht genug.«
    Ich habe Anne auch geliebt, dachte Jo. So sehr, dass sie sogar noch bei mir war, als sie längst tot war. Wie wohl Annes Begräbnis war? Sie kannte es nur aus Erzählungen. Denn sie war nicht da. An jenem Tag war sie mit Anne auf dem Grünstreifen. Weit ab der Realität. Anne wurde zusammen mit all den anderen Opfern beigesetzt. Und die ganze Stadt nahm Anteil und trauerte mit den Hinterbliebenen. Ein Mensch allein hatte eine ganze Stadt verändert. Weil er nicht genug geliebt wurde?
    Â»Wir schlossen uns in unserer Wohnung ein«, sagte Nadeschda. »Tagelang gingen wir nicht vor die Tür. Wir hatten Angst. Es gab Morddrohungen und

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