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Aschenwelt

Aschenwelt

Titel: Aschenwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timon Schlichen Majer
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konnten sie es dir, und euch, nicht so zeigen. Verzeihe ihnen. Aber sie sind sehr traurig über Annes Tod. Aber noch mehr leiden sie mit dir.«
    Â»Sie erzählen so einen Mist.«
    Â»Wann, sagtest du, bist du aus der Klinik geflohen?«
    Ich nannte ihm das Datum. Und er spulte an die entsprechende Stelle jener Nacht. Ich sah, wie ich das Licht anmache, wie ich an die Tür gehe, die verschlossen ist, es dann mit dem Fenster probiere. Dann springe ich ins Bett und schalte das Licht aus. Die Schwester kommt herein und verschwindet wieder. Ich schalte das Licht wieder an, stehe auf und bleibe einen Schritt vor der Tür stehen. Eigentlich sollte spätestens an dieser Stelle Anne hereinkommen. Aber die Tür bleibt verschlossen. Auf dem Fernsehbild bleibe ich unbeweglich, wie zur Säule erstarrt, vor der geschlossenen Tür stehen. Stundenlang, die Uhr unten rechts läuft mit. Uschasnik drückte auf Schnellvorlauf. Bis ich am frühen Morgen wieder zurück in mein Bett schlüpfe. Anne war die ganze Zeit nirgends zu sehen.
    Â»Das ist ja wohl der Gipfel«, sagte ich.
    Â»Was?«
    Â»Ein Standbild von mir da hinzustellen. Das ist echt billig.«
    Â»Ich versichere dir, Johanna, dass an diesen Bildern niemand etwas verändert hat.«
    Â»Aber das ist doch Schwachsinn!«, schrie ich ihn an. »Hier! Sehen Sie? Hier steht Anne doch!« Ich wandte mich an Anne. »Jetzt sag doch endlich mal was!« Aber sie blickte mich nur stumm und traurig an. Ihr weißes Kleid hing an ihr hinab, jenes, das sie eigentlich immer trug. Jeden Tag …
    Â»In diesem Raum ist außer dir und mir niemand, Johanna«, sagte Uschasnik.
    Â»Doch!«, rief ich und kämpfte die Panik nieder, die von aufkommenden Zweifeln an meinem Verstand aufkam. »Anne! Sag doch etwas!« Ich bettelte sie an, schüttelte sie. »Sag was! Du bist hier! Bei mir! Du bist nicht tot! Sag etwas, bitte!« Ich schluchzte und mein Hals verkrampfte. Anne stand immer noch stumm da. Ihr Kinn zitterte. Tränen liefen über ihre Wangen und tropften auf ihr Kleid. Sie waren rot. Wie Blut.
    Â»Anne!«, rief ich noch einmal mit tränenerstickter Stimme. »Tu mir das nicht an!«
    Ich schüttelte sie noch einmal. Aber meine Kraft schwand zunehmend. Annes Kleid war mit Blut getränkt und sie fing an, durchsichtig zu werden. Ich konnte durch ihren Körper hindurchsehen und erblickte das Regal hinter ihrem Rücken. Sie löste sich in Luft auf. Das letzte, was ich von ihr sah, war ihr trauriges Lächeln.
    Ich sank auf die Knie. Ich rang nach Atem. Alles in mir verkrampfte sich. Ich konnte nicht mehr atmen. Ich konnte nicht weinen, nicht schreien. Ich war auf den Knien, die Arme immer noch ausgestreckt, dort hin, wo bis gerade eben noch Anne gestanden hatte. Ich war kurz davor zu ersticken. Es fühlte sich an, als wäre ein tonnenschwerer Stahlblock auf meine Brust gefallen. Er zerquetschte mich erbarmungslos. Meine Augen wurden aus ihren Höhlen gepresst. Ich schnappte verzweifelt nach Luft, aber es gelangte nicht das kleinste bisschen hinein. Bis sich auf einen Schlag alles in mir löste und ich einen einzigen, endlosen Schrei voller Schmerz und Verzweiflung in die Welt hinausstieß.

    Es fiel Jo schwer, die letzten Absätze vorzulesen. Immer wieder brach ihre Stimme und sie musste gegen die Tränen ankämpfen, die herausdrängten. Der Weinkrampf, der sie nach dem Schreiben gepackt hatte, war ähnlich heftig gewesen wie der damals.
    Jo schlug das Buch zu, schaute in Nadeschdas Gesicht und erschrak. Nadeschda war kreidebleich und blickte vor sich aufs Bett. Sie war wie weggetreten und kaum ansprechbar.
    Â»Deschda?«, fragte Jo. »Was ist mit dir?«
    Es dauerte einige Zeit, bis sie aus ihrer Starre erwachte, ihren Kopf hob und Jo in die Augen schaute.
    Â»Was?«, wisperte sie.
    Â»Was mir dir ist, will ich wissen.«
    Â»Es ist … ich bin«, stammelte Nadeschda, und jedes Wort strengte sie dabei an. »Es ist schrecklich. So schrecklich. Ich wusste nicht, dass Anne …, dass sie tot ist. Das wusste ich nicht.« Sie schüttelte mechanisch den Kopf, legte ihre Hand an ihre Stirn und schaute wieder auf die Bettdecke hinab.
    Jo wusste nicht, was sie sagen sollte und nahm Nadeschdas Hand. Sie erschrak wie kalt sie war. Nadeschda wollte sie zurückziehen, aber Jo hielt sie fest. Mit ihrer anderen Hand stützte Nadeschda ihren Kopf, den sie immer noch

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