Aschenwelt
schüttelte. Sie zuckte.
»Weinst du?« Jo beugte sich vor und versuchte, Nadeschdas Gesicht zu sehen. Sie rutschte noch näher an sie heran und nahm sie in den Arm, ganz so wie zuvor Nadeschda es bei ihr gemacht hatte. Sie war überrascht, dass Nadeschda fast genau so sehr weinte wie sie, obwohl sie Anne doch gar nicht gekannt hatte.
Nadeschda brauchte mehrere Minuten, bis sie sich wieder ein wenig gefangen hatte. Aber sie war immer noch bleich wie eine frischgeweiÃte Wand, und ihre Hände waren kalt, als hätte sie gerade ihr vereistes Kühlfach gereinigt.
Nadeschda wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und schaute Jo lange in die Augen, bis sie schlieÃlich noch einmal sagte: »Ich wusste es nicht.«
»Woher auch«, erwiderte Jo. »Ich hatte es dir nicht gesagt. Kaum jemand weià davon. Für mich ist es bis heute noch oft so, dass Anne nur gegangen ist, und nicht tot. Immer wieder hab ich mich dabei erwischt, wie ich hoffte, dass sie wieder zu mir zurück kommt.«
»Hast du sie noch einmal gesehen? So â¦Â«
»Ein einziges Mal noch, ja. Als ich schon wieder von der Klinik zuhause war. Dann nie wieder.« Jo erinnerte sich daran, als sei es gestern gewesen. Aber es war wie ein Traum, der nicht greifbar und nicht wahr war. Anne war tot. Und irgendwann hatte ihr Verstand es akzeptiert, ihr Herz bis heute nicht.
»Es tut mir leid«, sagte Nadeschda. »So leid.«
»Mir auch«, seufzte Jo. »Ich war danach noch eine Ewigkeit in der Klinik. Ich wollte nicht mehr leben, nicht ohne Anne. Ohne sie war alles nichts. Ich habe keinen Sinn mehr in meinem Leben gesehen.«
»Und wie hast du es trotzdem geschafft?«
»Nur dank Dr. Uschasnik, Kevin und meinen Eltern. Es war harte Arbeit, für alle Beteiligten.«
Nadeschda nickte wortlos. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Ihre Gesichtsfarbe glich immer noch einem Winterhimmel und sie war immer noch eiszapfenkalt.
Jo machte sich Sorgen um sie. »Was hast du denn?«
»Es ist â¦Â« Nadeschda schüttelte den Kopf. »Ich wusste es nicht«, sagte sie, und noch einmal: »Ich wusste es nicht.« Dabei blickte sie zur Zimmerdecke hinauf.
Jo war verwirrt. Warum wiederholte Nadeschda das so oft?
»Hey, schon gut«, sagte sie.
»Ich kannte Anne nicht.« Nadeschda blickte Jo fest in die Augen. »Und ich kannte auch dich nicht. Ich war ja auf einer anderen Schule. Damals.«
»Wie meinst du das jetzt?« Jos Verwirrung wuchs.
Nadeschda atmete hörbar aus, blickte wieder an die Decke und machte den Anschein, als ringe sie mit etwas.
»Ich wusste es nicht.«
Jo wurde mulmig. Nadeschdas Verhalten machte ihr langsam Angst.
»Ich weiÃ, dass du Anne und mich nicht kanntest, eben weil du auf einer anderen Schule gewesen bist«, sagte Jo. »Aber ich verstehe nicht, was du hast. Ich mein, jeder kann froh sein, der damals nicht auf dieser Schule war. Anne ist nicht die einzige, die ihr Leben verlor.«
In Nadeschdas Augen standen jetzt wieder Tränen, ihre Mundwinkel zitterten. »Mein Bruder war auf dieser Schule.« Ihre Stimme klang brüchig und schwach.
Das fuhr wie ein Blitz in Jo. Plötzlich verstand sie, woher diese Traurigkeit in Nadeschdas Augen stammte. Auch Nadeschda hatte jemanden an diesem Tag verloren, den sie liebte.
»Oh Gott, Deschda!« Sie drückte sie ein wenig fester. »Das ist â¦Â« Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
Nadeschda schüttelte den Kopf, wischte sich die Tränen aus ihrem Gesicht und rang um Fassung. »Es ist ⦠es muss ⦠du trägst keine Schuld. Niemand trägt Schuld. Nur er!« Sie stieà einen lauten Schluchzer aus. »GOTT!« Sie weinte, ballte die Fäuste und verzerrte ihr Gesicht zu einer Grimasse. Zorn lag in ihrer Stimme.
»Hey, jetzt ist doch alles gut«, versuchte Jo sie zu beruhigen. »Wir haben uns, wir leben. Das ist das wichtigste.«
Nadeschdas Mundwinkel zitterten immer noch, stärker als zuvor, genauso wie inzwischen ihr ganzer Körper. Und sie war noch kälter und noch bleicher.
»Mein Bruder«, sagte sie, um eine ruhigere Stimme bemüht, »ist an diesem Tag auch gestorben.«
»Das tut mir leid.«
»Die vielen Tote«, sagte Nadeschda. »Sie wurden aus ihrem Leben gerissen, von einer auf die andere Sekunde. Ihr Leben wurde ausgelöscht, wie eine Kerzenflamme. Zack. Einfach aus. So sinnlos, so endgültig. Sie
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