Ascheträume
hatte etwas in Gang gesetzt, das nie wieder zu stoppen wäre.
Plötzlich erschienen Christine und Leonard auf der Bildfläche.
»Das wird dich teuer zu stehen kommen – warte nur!«, fauchte Christine und machte einen Schritt auf Esteban zu.
»Ich sterbe schon vor Angst!«, gab er selbstgefällig zurück. »Das Kätzchen fährt seine Krallen aus …«
Leo flüsterte mir ins Ohr: »Komm, Thara, lass uns gehen.«
Ich folgte ihm, während Christine sich weiter mit Esteban stritt. Ich warf einen Blick zurück und sah, wie sie auf ihn losgehen wollte und die anderen Jungs sie festhielten.
»Keine Sorge«, sagte Leo leise. »Wir kriegen das wieder hin, du wirst sehen.«
Ich holte tief Luft.
»Weißt du, das interessiert mich gar nicht«, log ich. »Lass uns ins Klassenzimmer gehen und das Ganze vergessen.«
Zum Glück hatten wir in den ersten Stunden Latein. In diesem Fach war ich gut und musste nicht besonders aufpassen, denn das hätte ich in meinem jetzigen Zustand nicht fertiggebracht.
Leo und ich setzten uns nebeneinander und belegten einen Platz für Christine.
Herr Calinger saß am Lehrerpult, ging irgendwelche Texte durch und achtete nicht auf das Kommen und Gehen der Schüler. Die Brille hing ihm fast auf der Nasenspitze, und er besah sich seine Notizen wie ein Geier. Er beugte sich vor und ließ seinen Kopf ruckartig nach rechts und links schnellen. Von allen Lehrern hatte er sich als Einziger einen Hauch Menschlichkeit bewahrt.
Kurz bevor er anfing zu sprechen, kam Christine als Letzte ins Klassenzimmer und setzte sich neben uns.
»Esteban wird bereuen, wie er dich behandelt hat und erst recht, wie er mich behandelt hat!«, sagte sie, nahm ihr Textbuch und knallte es aufs Pult. Dann stützte sie die Ellbogen auf und machte ein mürrisches Gesicht.
In diesem Moment erhob sich Herr Calinger, sein Stuhl quietschte. Er stand immer gebeugt da, und von unseren Plätzen aus hatten wir einen perfekten Blick auf seinen Kahlkopf.
»Heute«, sagte er und räusperte sich, »lassen wir die Grammatik Grammatik sein und sprechen über etwas anderes. Etwas Interessanteres.«
»Halleluja!«, brummte Christine.
Herr Calinger hob den Zeigefinger. »Wir wollen heute über die größte Bibliothek sprechen, die es jemals gab. Die Bibliothek von Alexandria. Weiß jemand etwas darüber?«, fragte er mit Blick in die Klasse.
Nachdem er keine erhobenen Hände sah, blieb sein Blick an mir haften. Nolens volens war ich seine Lieblingsschülerin.
»Thara?«, fragte er.
Ich zwang mich zu einem Lächeln. Dass sich an diesem Tag alle Aufmerksamkeit auf mich richtete, war das Letzte, was ich wollte.
»Na, vielen Dank auch, Herr Calinger!«, sagte ich ganz leise und mit einem Anflug von Sarkasmus, dann hob ich die Stimme: »Ich weiß nur, dass sie vor etwa zweitausend Jahren zerstört worden ist, das war’s aber auch schon.«
»Ganz genau!«, rief Herr Calinger und kam hinter seinem Pult hervor. »Im dritten Jahrhundert nach Christus wurde sie bei einem Brand zerstört. Es gibt diesbezüglich keine genauen Quellen, aber man geht davon aus, dass sie während der Auseinandersetzungen zwischen dem römischen Kaiser Aurelian und der Königin Zenobia von Palmyra ein Raub der Flammen wurde. Seneca beziffert die Brandverluste auf 40 000 Buchrollen, ein anderer Gelehrter gar auf 700 000 …«
In den beiden folgenden Stunden erzählte er mit leidenschaftlicher Begeisterung die Geschichte der Bibliothek. Ich fand das Thema sehr interessant, Christine und Leonard hingegen nutzten die Gelegenheit, um sich mit anderen Dingen zu beschäftigen, ohne zurechtgewiesen zu werden. Wenn Herr Calinger etwas erzählte, an dem ihm besonders gelegen war, kümmerte er sich nicht mehr um das, was um ihn herum geschah.
Am Ende der Lateinstunde nahmen wir unsere Bücher und verließen das Klassenzimmer. Uns erwarteten zwei Stunden bei unserer Geschichtslehrerin Frau Palmer. Zu ihr hatte ich keinen besonders guten Draht.
Doch auch diese Qual ging vorüber, und wir konnten endlich in die Mensa gehen.
Der Saal war groß und gedrängt voll. Ich hasste es, dort zu essen, aber unsere Mittagspause war zu kurz, um vor dem Nachmittagsunterricht nach Hause zu gehen. Mein Magen war total verkrampft, also holte ich mir nur einen Kaffee.
Leo, Christine und ich setzten uns an einen Tisch am Rand, direkt unter der Empore, die mitunter für Schulkonferenzen oder -versammlungen genutzt wurde. Ich wollte meinen Freunden erzählen, was mir tags zuvor passiert war,
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