Ascheträume
ein verborgenes Lächeln …
Wie so ein Junge wohl hieß? Er musste mindestens zehn Namen haben, einen für jede Farbe seiner Augen.
Ich hielt inne und kippte mit dem Stuhl nach hinten. Mir kam ein abwegiger Gedanke: Auf Altgriechisch bedeutete Iris »Regenbogen«.
Ich machte die Zeichnung fertig, heftete sie mit einer Nadel an den Schrank und betrachtete sie. Dann fiel mein Blick auf das Telefon auf der Kommode.
Ich wusste nicht, ob ich Christine anrufen und ihr erzählen sollte, was passiert war. Vor allem nachdem sie mich im Garten eines Fremden alleingelassen hatte. Und wenn ich sie anrief, was sollte ich ihr sagen?
Am Abend holte meine Mutter im China-Restaurant ein Take-Away-Menü. Das aßen wir hin und wieder ganz gern, wenn keine von uns Lust hatte zu kochen. Sie hatte mich am Nachmittag gefragt, ob ich etwas zum Essen machen könnte, aber ich hatte Kopfschmerzen.
Wir setzten uns ins Wohnzimmer und schauten fern. Meine Mutter hatte die schreckliche Angewohnheit, ständig herumzuzappen, sodass wir nie eine Sendung oder einen Film vollständig sahen, sondern immer nur einen absurden Wirrwarr an Bildern. An jenem Abend war das jedoch mein geringstes Problem. Ich interessierte mich nicht für das Fernsehprogramm, ich war vollkommen abwesend und viel zu sehr damit beschäftigt, vor mich hin zu grübeln.
Meine Mutter merkte erst, dass etwas nicht stimmte, als sie die Schachtel mit dem Mandel-Hühnchen öffnete, sie mir reichte und ich nicht reagierte.
»Was ist?«, fragte sie. »Du hast noch kein Wort gesagt. Willst du lieber das Curry-Hähnchen?«
Ich blickte kurz auf, um ihr zu zeigen, dass ich anwesend war. »Mama«, sagte ich, »meinst du, dass Narkolepsie, also meine Schlafkrankheit, Halluzinationen hervorrufen kann?«
Sie verharrte mit dem Hühnchen in der Hand und sah mich unschlüssig an. »Das weiß ich nicht. Ich glaube, eher nicht«, sagte sie leise. »Warum?«
»Nur so. Aus Neugier«, log ich mit einiger Mühe.
»Ist etwas passiert?«, fragte sie besorgt.
Auf so eine Frage hätte ich gefasst sein müssen.
»Nein. Nichts Besonderes, nichts, worüber du dir Gedanken machen müsstest.«
Doch so einfach konnte ich sie nicht beruhigen. Das Mandel-Hühnchen schwebte noch immer zwischen uns.
Schließlich fand ich eine Möglichkeit, das Gespräch zu beenden.
»Dieser Charles sieht aus wie ein Typ aus einem Comic.«
Dann knallte meine Mutter die Schachtel mit dem Huhn auf den Tisch. »Ich bitte dich, Thara«, sagte sie und heftete den Blick auf den Fernseher, »bitte …«
Und wir fingen an zu essen.
Ich stocherte nur ein wenig in meinem Reis.
Meine Mutter hatte zwar keinen Abschluss in Medizin, aber ich wusste, dass sie auf diesem Gebiet sehr kompetent war. Wenn sie Halluzinationen also ausschloss, dann vertraute ich ihrem Urteil. Dennoch wusste ich nicht, ob es mich beruhigen sollte, dass ich noch bei Verstand war, oder ob ich Angst haben musste, weil das, was ich erlebt hatte, offensichtlich real war. Für den Moment beschloss ich, es dabei bewenden zu lassen, doch das hinterließ ein kaltes, feuchtes Kribbeln auf meiner Haut.
Ich zog es vor, meine Aufmerksamkeit auf greifbarere Dinge zu richten.
Ich schenkte mir ein Glas Cola ein, trank es und konzentrierte mich auf die Bläschen, die mich am Gaumen kitzelten.
Ich war im Garten eines fremden Mannes ohnmächtig geworden, und aus purem Zufall kannte dieser Mann meinen Vater. Den Vater, über den ich nur so viel wusste: Er hieß Ray und war wenige Tage nach meiner Geburt gestorben. Ich hatte noch nicht einmal ein Foto von ihm gesehen. Meine Mutter hatte alles verbrannt, als könnte sie ihn so aus dem Gedächtnis löschen.
Es war mir egal, dass sie beschlossen hatte, ich dürfe Charles nicht mehr sehen. Ich würde ihn ganz sicher wiedertreffen. Vielleicht war es für meine Mutter schmerzhaft, Charles zu sehen, aber für mich war er ein neues Gesicht.
Ich beschloss, am nächsten Tag wieder zur Villa zu gehen und Charles darum zu bitten, mir alles zu erzählen, jede Kleinigkeit, an die er sich erinnerte.
Zumindest war das eine gute Möglichkeit, mich abzulenken.
Am nächsten Tag ging schon gleich in der Früh alles schief.
Kaum war ich aufgestanden, gab die Kaffeemaschine den Geist auf. Ich ging stattdessen in ein Café, und als ich mit einem Pappbecher in der Hand wieder herauskam, sah ich, wie mein Bus von der Haltestelle wegfuhr.
Ich rieb mir das Gesicht, um nicht laut loszubrüllen. In der Nacht hatte ich trotz meiner ständigen
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