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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Temporin
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lieber nicht erinnern will.«
    Ich runzelte die Stirn. So sprach Mama eigentlich nur über ein Thema. Besser gesagt, sie sprach eigentlich gar nicht darüber.
    »Du meinst, mit Dad?«
    Sie versteifte sich, als wäre mit diesen Worten die Zeit stehen geblieben oder die Temperatur gesunken und sie mitten in der Bewegung eingefroren. Ihre Stimme zitterte, ohne dass sie richtige Worte artikulierte. Dann öffnete sie die Tür, und bevor sie hinausging, sagte sie mit traurigem Gesicht: »Ich muss heute noch viel erledigen … Besser, ich räume jetzt weiter die Regale auf.«
    In meinem Zimmer warf ich mich aufs Bett und starrte an die Decke.
    Mir ging so vieles durch den Kopf, dass ich nicht wusste, wo ich anfangen sollte. Ich fühlte mich nicht gut, ich war unruhig und verstört.
    In diesem Zustand hatte ich die blöde Angewohnheit, mir auf die Lippen zu beißen. Zumindest konnte ich auf diese Weise den Schmerz einordnen, den ich empfand.
    Ich dachte noch immer über die mondlose Welt nach. Ich wollte mir einreden, dass es ein Albtraum war, aber je mehr ich es versuchte, desto heftiger kamen mir die Eindrücke und die Angst wieder in den Sinn. Ich spürte noch die Asche in den Haaren und an den Fingern wie Totenpuder. Ich wusste nicht, was mir lieber gewesen wäre: dass diese Welt ein Auswuchs meiner Schlafkrankheit war oder dass es sie wirklich gab.
    Und wenn es sie gab, was war sie dann? Die Hölle, das Fegefeuer, ein Raucherparadies?
    Ich holte tief Luft.
    Ich glaubte nicht an das Übernatürliche. Meine Mutter hatte mich immer dazu angehalten, rational zu denken, und behauptet, nur das menschliche Verhalten sei unerklärlich. Vielleicht war das die einzige Meinung, die ich wirklich mit ihr teilte.
    Einerseits zwang ich mich zu glauben, einer Sinnestäuschung erlegen zu sein, andererseits spürte ich, dass dem nicht so war. Diese Wesen, diese rissigen Hände, die mich an den Beinen gepackt hatten – ich hatte sie gesehen und gespürt. Ich konnte noch den scharfen Geruch der Asche riechen, die mir in Nase und Augen gedrungen war. Ich packte das Laken, als wollte ich mich vergewissern, dass ich meinen Händen trauen konnte.
    Was sollte ich denken? Vielleicht wäre es das Beste, mit meiner Mutter darüber zu sprechen. Sie könnte mir Tabletten geben, und ich würde alles vergessen. Oder sie würde mich zu einem Seelenklempner schicken. Nein, das kam nicht infrage, eher würde ich für den Rest meines Lebens an Kobolde glauben.
    Im Moment war es wohl das Beste, die Sache für mich zu behalten oder höchstens mit Christine darüber zu reden. Und wer sagte mir denn überhaupt, dass sich meine Weltenreise wiederholte? Es war unwahrscheinlich, dass es noch einmal geschah. Ich musste einfach alles vergessen.
    Aber diese Augen könnte ich niemals aus meinem Gedächtnis streichen.
    Ich bin noch nie gerettet worden, zum Glück war das bislang nicht nötig gewesen, aber es war eine aufregende Erfahrung. Ich erinnerte mich zu deutlich daran, um einfach auf die Delete-Taste zu drücken.
    Freilich war das Benehmen des geheimnisvollen Jungen nicht so toll wie seine Augen, aber er übte einen gewissen Zauber aus. Nicht jeder konnte einen Menschen innerhalb von wenigen Sekunden verunsichern und gleichzeitig faszinieren.
    Irgendetwas an seinem Aussehen hatte mich angezogen und verwirrt. Ich verspürte das Bedürfnis, mehr über ihn zu erfahren.
    Die Begegnung mit ihm war, als würde ich vor einer verschlossenen Tür stehen, hinter der ich merkwürdige Geräusche hörte. Ich wusste nicht, was hinter der Schwelle auf mich wartete, aber die Versuchung, die Tür zu öffnen, war zu groß, um ihr zu widerstehen.
    Ich wusste nicht einmal, wie der Junge hieß.
    Für mich war er nur ein Gesicht.
    Ich schloss die Augen, um zu prüfen, ob sich Spuren seiner Existenz hinter meinen Lidern festgesetzt hatten. Aber ich fand nur Dunkelheit.
    Ich dachte noch eine Weile nach, dann erhob ich mich von meinem Bett und ging zum Schreibtisch. Ich zog die Schublade mit dem Zeichenblock und den Buntstiften auf.
    Da ich an den Jungen nur eine flüchtige Erinnerung hatte, wollte ich sie nicht verblassen lassen und begann ihn zu zeichnen.
    Ich malte ihn so, wie ich ihn im ersten Moment gesehen hatte: auf einem verbrannten Eisenbahnwaggon stehend, seine Augen sendeten schillernde Blitze in alle Richtungen aus.
    Während sich meine Erinnerung auf dem Papier wieder zusammenfügte, stellte ich fest, dass er schlank und sportlich war. Vielleicht gab es ja irgendwo auch

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