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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Temporin
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zwischen den beiden Welten? Und konnte Nate, während seiner qualvollen Verwandlung, tatsächlich zu einer Gefahr werden? Oder bekam er diese Anfälle als Folge seines Gedächtnisverlusts?
    Seufzend zog ich die Stirn kraus. Hier an diesem verfluchten Ort wehte kein Lüftchen, und unter dem schwarzen Mond fühlte ich mich beobachtet.
    »Gehen wir?«, fragte Nate irgendwann.
    Ich drehte mich um, noch immer benommen.
    »Wohin? Zum Schiff?«
    Er lächelte, als hätte ich etwas besonders Dummes gesagt.
    »Machst du Witze? Da ist gerade ein Wald aufgetaucht, lass uns nachsehen, ob wir etwas darin finden!«
    »Ja, natürlich …«, sagte ich und tat so, als sei es das Selbstverständlichste der Welt.
    Nate öffnete eine Tür, und wir gingen die Treppen des Gebäudes hinunter, von dem ich nun wusste, dass es eine Schule war, aber das konnte mich nicht beruhigen. Nate ging mir auf den einsturzgefährdeten Stufen voraus und warnte mich jedes Mal, wenn etwas im Weg lag. Er sagte mir, wohin ich meine Füße setzen musste, um nicht zu stolpern, und inspizierte die Korridore, um sich zu vergewissern, dass die Grauen nicht in der Nähe waren.
    Alles ging glatt, wir liefen über den Schutt und gelangten zum Ausgang. Wir stiegen die Stufen am Haupteingang hinab und blieben stehen.
    »Das ist also dein Zeitvertreib?«, fragte ich, während ich die Ascheschicht von meinen Kleidern klopfte.
    Ich hielt inne. In diesem Augenblick sah ich, dass ich nicht mehr das violette Kleid trug, sondern ein Alltagskleid, und zwar mein liebstes. Ich überlegte, ob ich bei meinen Reisen ins Cinerarium vielleicht immer das trug, was mir in jenem Moment am besten entsprach.
    »Ich habe nichts anderes zu tun«, antwortete Nate.
    »Was?«, fragte ich in Gedanken.
    »Hier gibt es nichts anderes zu tun.«
    »Das muss lustig sein«, sagte ich ein wenig spöttisch.
    Er schien meine Ironie nicht zu bemerken und drehte sich lächelnd um.
    »Zu zweit wird es toll!«
    Auch ich lächelte, und wir entfernten uns von dem Gebäude in Richtung Wald. Auf dem Weg blickte ich mir immer wieder über die Schulter, um sicherzugehen, dass uns niemand folgte.
    Die Schule war ohne Zweifel dieselbe, die ich in den Nachrichten hatte brennen sehen.
    Ich sah ein paar Aschemenschen aus dem Portal kommen, aber sie waren zu langsam und zu weit weg, um uns zu erreichen. Es war nicht nötig, Nate zu warnen.
    Schweigend durchquerten wir die Aschefläche. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, doch Nate schien so an die Einsamkeit gewöhnt zu sein, dass er gar nicht darauf achtete.
    Plötzlich fing er an, ein Lied zu pfeifen.
    Bevor ich das noch kommentieren konnte, blieb er stehen und drehte sich zu mir um.
    »Was ist das? Was tue ich da?«, fragte er aufgeschreckt.
    »Du pfeifst eine Melodie«, sagte ich genauso verwundert.
    »Ach!« Wieder lächelte er unsicher. »Das gefällt mir!«
    Wir gingen weiter. In Momenten wie diesen war er richtig witzig, und ich vergaß darüber sogar, wo wir uns befanden. Ich kannte sein Lied, es war die Melodie von The Sound of Silence , und so beschloss ich mitzusingen.
    » Hello darkness, my old friend «, trällerte ich, » I’ve come to talk to you again … «
    Das Lied handelt von nächtlichen Visionen, die im Schlaf ihre Saat legten und dann in unserem Gehirn wuchsen.
    Pfeifend drehte Nate sich um.
    Offenbar hatte ich ihn mit meinem Singsang überglücklich gemacht. Die Grübchen an seinen Mundwinkeln tauchten wieder auf.
    Auf dem ganzen Weg zum Wald sangen wir dieses und andere Lieder. Nate schien wirklich selig, und ich fühlte mich wohl. Wer hätte gedacht, dass ein paar Lieder eine solche Stimmung in mir auslösen konnten?
    Ich brachte ihm den Text bei, und irgendwann tanzten wir sogar ein wenig dazu. Ich kam mir nicht mal blöd dabei vor. An diesem Ort gab es keine Regeln, und auch Nate schien keinen zu folgen.
    Ich fühlte mich so frei, als könnte ich alles tun, was ich wollte.
    Zwischen den ersten Baumstämmen blieben wir stehen, und als wir verstummten, herrschte eine unerwartete Stille. In einem normalen Wald hätte man Vogelgezwitscher gehört und Blätter, die im Wind rauschten. Hier aber herrschte nur Stille. Eine alles verschluckende Stille, die mich erschreckte.
    An meiner Art mich umzusehen, merkte Nate, dass ich nervös war. Ich hatte das Gefühl, dass zwischen den Bäumen etwas kauerte.
    »Sei still«, sagte er und machte ein paar Schritte vorwärts, dann drehte er sich um. »Die Grauen kommen nicht, wenn etwas neu entsteht. Die

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