Ascheträume
mächtig. Im Grunde brauchte er mich nur, um sich selbst zu helfen.
Wir legten den Kreisel wieder dorthin, wo wir ihn gefunden hatten, als könne jemand noch etwas damit anfangen, und inspizierten die anderen Gegenstände. Bis auf ein Buch, waren es ausschließlich Spielsachen.
Nate strich mit der Hand über den Umschlag und versuchte, die Rußschicht abzuwischen. Darunter erschienen zwei Wörter: Peter Pan.
»Das kenne ich …«, sagte er.
Er setzte sich dicht neben mich und legte mir das Buch auf den Schoß.
»Das ist ein Märchen«, erklärte ich ihm. »Ich habe es immer unheimlich gefunden – wie übrigens alle Märchen.«
Ich versuchte das Büchlein aufzuschlagen. Es wirkte sehr zerbrechlich, die Seiten waren fast schwarz und durchscheinend, aber zu meinem großen Erstaunen zerfielen sie nicht zu Staub.
Es war, als hätte die Asche im Cinerarium die Eigenschaft, sich in etwas anderes zu verwandeln, als etwas anderes zu erscheinen. Das hatte ich schon mehrere Male erlebt. Sie konnte zu einem Hochhaus werden, einem Baum und sogar zu Wasser. Oder zu einem Menschen.
»Hast du Lust, mir ein bisschen daraus vorzulesen?«, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen.
Sein bunter Blick schien das ganze Baumhaus in Schwingungen zu versetzen.
»Ja, gut.« Ich schlug die erste Seite auf. »Also …«
Auf dem dunklen Papier waren die Buchstaben nicht leicht zu erkennen. Ich behalf mir, indem ich mit dem Finger unter den Zeilen entlangfuhr.
»Alle Kinder, außer einem, werden erwachsen. Sie wissen schon bald, dass sie erwachsen werden, und Wendy erfuhr es auf folgende Weise: Eines Tages, sie war zwei Jahre alt, spielte sie im Garten. Sie pflückte Blumen und rannte damit zu ihrer Mutter. Ich glaube, sie hat wohl ganz reizend ausgesehen, denn Mrs. Darling legte die Hand aufs Herz und rief aus: ›Ach, warum kannst du nur nicht immer so bleiben!‹«
Ich schaute von dem Buch auf und sah Nate an. Er kauerte an der Wand, mit den Händen auf den Knien.
»Was ist?«, fragte ich besorgt.
Er zuckte mit den Schultern.
»Nichts … Ich dachte daran, dass ich immer gleich bleibe.«
»Was willst du damit sagen?«
»Dass ich schon immer so war. Nun erinnere ich mich, dass Menschen auch älter werden.«
Daran hatte ich nicht gedacht.
»Willst du damit sagen, dass du nicht so alt bist wie ich?«
»Wie du?«, fragte er ein wenig verwirrt.
»Ich bin siebzehn. Wie alt bist du?«
Nate sah mich schweigend an. Kurz sah es so aus, als wollte er mir antworten, als hätte er die Wahrheit, wenn auch ein wenig eingerostet, in sich selbst gefunden. Dann senkte er wieder den Blick und sagte nichts. Ich begriff, dass es besser war, nicht darauf zu beharren.
»Willst du es mal versuchen?«, fragte ich und legte ihm das Buch auf den Schoß.
Mein Handrücken streifte seine Hose und ich spürte, wie sich seine Muskeln unter dem Stoff verkrampften.
»Das kann ich nicht«, sagte er und rückte von mir ab.
»Komm, versuch’s, ich helfe dir.«
Er wankte, aber am Ende griffen seine Hände, ohne seinen Gedanken zu folgen, nach dem Buch. Bei der Art, wie er sich darüberbeugte, musste ich lächeln. Er sah aus, als würde er etwas Winzigkleines untersuchen, auch wenn die Buchstaben in Wirklichkeit ziemlich groß waren.
Wir schlugen irgendeine andere Seite auf.
Genau wie ich fuhr er mit dem Finger die Zeilen entlang, nur dass er die Buchstaben dabei verdeckte. Wieder musste ich lächeln, aber ich wollte ihn nicht in Verlegenheit bringen. Ich legte ihm den Finger unter die erste Zeile. Seine Hände waren glatt und warm.
»Das ist ein N«, sagte ich zu ihm, »und das ein A …«
»›Nana‹«, kam er mir zuvor.
»Genau!«, rief ich und staunte über seine schnelle Auffassungsgabe.
Im Grunde lernte er nichts Neues, er frischte nur etwas auf, das er noch in seinen Gehirnwindungen verborgen hatte.
Ich ließ ihn alle Buchstaben des Satzes wiederholen und suchte diejenigen heraus, die noch fehlten, um das Alphabet zu vervollständigen. Nate nickte zur Bestätigung immer leicht mit dem Kopf. Er konzentrierte sich sehr, und das Ergebnis verblüffte mich. Nach nur wenigen Minuten konnte er schon einen ganzen Abschnitt lesen.
Flüssig las er ein weiteres Stück und als er fertig war, atmete er so schwer, als hätte er eine übermenschliche Anstrengung unternommen, als hätte er die senkrechte Wand eines Berges erklommen.
»Unglaublich!«, stieß ich hervor.
»Das ist alles dein Verdienst«, sagte Nate leise und lächelte schwach.
Ich war
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