Ascheträume
fast versucht, ihn zu streicheln und ihm die Haare aus den Augen zu streichen, wie er es bei mir getan hatte. Doch ich zog es vor, mich zu beherrschen und suchte nach einer anderen Möglichkeit, ihm zu verstehen zu geben, wie froh ich war.
»Dieses Baumhaus«, sagte ich und sah an die Decke aus Balken, »könnte unsere Zuflucht sein – wie bei den Verlorenen Jungen.«
»Ja«, stimmte Nate zu. »Aber was ist eine ›Zuflucht‹, und was sind ›Verlorene Jungen‹?«
»Eine Zuflucht ist ein Versteck, in dem man sicher ist«, erklärte ich.
Nate nickte, er hatte verstanden.
»Und die Verlorenen Jungen … Bei Peter Pan sind das die Kinder, die aus den Kinderwagen fallen. Wenn sie nach einer Woche nicht abgeholt worden sind, werden sie auf die Insel Nimmerland geschickt.«
»Das habe ich immer noch nicht verstanden«, sagte er dieses Mal.
Verständlich. Ich durfte ihn nicht mit fiktiven Dingen durcheinanderbringen.
»Es sind eben Kinder, die verloren sind, das ist alles.«
»›Verloren‹«, wiederholte er. »Was bedeutet das?«
»Dass sie nicht mehr nach Hause finden, dass sie nicht mehr zurückkönnen.«
Nate verfiel in tiefes Schweigen. Darauf war ich nicht gefasst und ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Nervös kratzte ich mich an der Wange.
»Bin ich ein Verlorener Junge?«, fragte er schließlich.
Diese neue Frage verschlug mir die Sprache vollends.
»Und ist das hier ›Nimmerland‹?«, fügte er hinzu.
Ich sah ihn an und hoffte, er würde verstehen. Ich hatte darauf keine Antwort. Möglicherweise hatte er ja sogar recht.
Aber ich sagte nur: »Nein, Nate. Vielleicht warst du verloren. Aber jetzt, da ich dich gefunden habe, bist du es nicht mehr.«
Lächelnd stand er auf.
»Danke, Wendy«, sagte er plötzlich, als würde er sich mit einem Mal an die ganze Geschichte erinnern.
Auch ich stand auf und stellte mich neben ihn. Er blickte aus dem kleinen Fenster. Der graue Wald war still und reglos. Zwischen den Bäumen gab es nun keine merkwürdigen Bewegungen mehr, nur die Asche, die langsam herabregnete.
Am nächsten Tag verbrachte ich die ersten Schulstunden ohne meine Freunde. Es war der einzige Tag in der Woche, an dem wir verschiedene Kurse hatten. Nur in den letzten beiden Stunden konnte ich Christine treffen, und zwar in dem Fach, das ich am meisten verabscheute: Sport. Im Grunde hatte ich nichts gegen ein bisschen Bewegung, manchmal joggte ich sogar allein im Park, aber mich störten der Wettkampf und die Vorstellung, Teil einer Mannschaft zu sein.
Wenn wir Volleyball spielten, fühlte ich mich am Ende immer für die anderen verantwortlich und machte in meiner Aufregung alles falsch. Wenn der Ball von oben auf mich zuflog, beobachtete ich ihn entweder reglos, bis er aufschlug, oder ich versuchte, ihn zurückzuschlagen, was ungefähr so aussah, als würde ich auf eine reife Melone eindreschen.
Zu allem Überfluss hatte mich Jennifer Suarez als Opfer für ihre Schmetterbälle auserkoren.
Meine Qual wurde mit einem Pfiff des Sportlehrers beendet, meiner Meinung nach der einzig sinnige Laut, der je aus seinem Mund kam. Wir gingen in die Umkleidekabinen, und ich nutzte die Pause, um mit Christine zu reden. Wir setzten uns auf eine Bank.
Während sie ihre Schuhe aufschnürte, griff ich nach meiner Thermoskanne mit dem Kaffee. Nach dem Sport hatte ich immer ein Energiedefizit, gegen das ich dringend etwas unternehmen musste, wenn ich nicht zusammenklappen wollte. Einmal war ich in den Umkleideräumen eingeschlafen, ohne dass es jemand gemerkt hatte, und erst am Nachmittag wieder aufgewacht
»Ich habe ihn wiedergesehen«, sagte ich beiläufig.
»Wen?«, fragte Christine mit einem verächtlichen Blick auf ein paar Mädchen, die an uns vorbeigingen.
»Den Jungen aus dem Cinerarium. Er heißt Nate.«
»Ach so«, antwortete sie desinteressiert.
Ich trank einen Schluck Kaffee.
»He, ich rede mit dir!«, sagte ich ein wenig gereizt. Zumindest meine beste Freundin sollte mir glauben. »Ich weiß jetzt auch, wie ich in diese Aschewelt komme.«
»Na, dann zieh das nächste Mal zwei Tickets.« Sie stand auf und zog ihr T -Shirt aus.
Ich schüttelte den Kopf. Sie nahm mich noch immer nicht ernst.
»Es sind die Iris. Ich weiß nicht, warum, ich weiß nicht, wo sich dieser Ort befindet, aber ich weiß, dass es ihn gibt und dass ich dort war.«
Seufzend legte mir Christine eine Hand auf die Schulter.
»Hör mal, Leonard steht auf X -Files, nicht ich.«
Ärgerlich stieß ich ihre Hand
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