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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Temporin
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noch woher die Flammen kommen«, sagte er nach einer Weile.
    »In meiner Welt ist es genau umgekehrt. Das Feuer reißt die Dinge mit sich«, gab ich zurück. »Hier scheint alles verkehrt herum zu funktionieren. Warum tauchen deiner Meinung nach diese Flammen auf?«
    »Keine Ahnung. Sie kommen und basta. Dieses Gebäude zum Beispiel«, fuhr er fort und deutete mit einem Kopfnicken auf das Dach, auf dem wir standen, »ist erst heute aufgetaucht.«
    Ich fuhr zusammen. Hinter Nate hatte ich eine Fahnenstange und eine verbrannte Flagge entdeckt.
    Ich beugte mich über den Sims und sah hinunter.
    Ich bekam Gänsehaut. Auch wenn sie auf dem Kopf stand und voller Ruß war, die Aufschrift auf der Vorderseite war noch deutlich zu erkennen: Es war der Name des Gymnasiums, das ich im Fernsehen hatte brennen sehen.
    Ich richtete mich wieder auf und sah Nate an. Verwirrt begegnete er meinem Blick.
    »Natürlich!«, rief ich. Und dann: »Versuch bitte zu verstehen, was ich dir jetzt sage, ich habe etwas sehr Wichtiges über diesen Ort hier herausgefunden. Das wird dir von Nutzen sein.« Meine Stimme bebte vor Aufregung. »Es wird uns beiden von Nutzen sein.« Ich ging von dem Sims weg und fuhr fort: »Ich habe dieses Gebäude in der Welt, aus der vielleicht auch du kommst, in Flammen aufgehen sehen.«
    Ich gestikulierte, weil ich überzeugt war, mich damit besser verständlich machen zu können.
    »Es kam in den Fernsehnachrichten.«
    Ich sah, dass Nate noch verdutzter dreinschaute, und suchte nach anderen Worten.
    »Ich glaube, ich habe verstanden: Alles was dort verbrennt, landet hier. Als wäre das Feuer eine Pforte zwischen dem, was existiert, und dem, was nicht existiert.« Ich wog meine Worte ab. »Was nicht mehr existiert.«
    Nate starrte mich an.
    Plötzlich wurde mir klar, was ich da soeben gesagt hatte. Wenn das stimmte, hieß das, dass Nate …
    »Ich bin tot«, kam er mir zuvor. »Ich bin verbrannt.«
    Ich war sicher, er würde gleich anfangen zu weinen.
    »Nein!«, bremste ich ihn mit einer Bestimmtheit, die ich eigentlich gar nicht hatte. »Der Tod ist das Nichts, Nate! Hier aber scheint mir etwas zu sein …«
    Nate schien intensiv darüber nachzudenken. Ich auch. Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Ich konnte nichts mit Sicherheit behaupten, aber ich konnte gewisse Dinge ausschließen und neue Thesen entwickeln. Laut sagte ich: »Die Flammen …« Ich überlegte. »Die Flammen, die Flammen …«, wiederholte ich wie eine Verrückte. »Die Flammen sind eine Pforte …« Es war halb eine Frage, halb eine Feststellung.
    Ich überprüfte meine Hypothese. Sie schien plausibel zu sein.
    »Gut«, sagte ich zu Nate und forderte ihn auf, sich zu setzen. Dann hockte ich mich neben ihn. »Ich denke, es ist so: Das Feuer ist ein Portal zwischen unseren beiden Welten. Das rote Feuer zerstört, das violette Feuer erschafft … Violett wie meine Augen, violett wie die Iris.«
    Ich hielt inne. Gab es da wirklich eine Verbindung? Hatten meine Augen etwas mit den Flammen gemeinsam? Konnte ich dank meiner Augenfarbe in diese andere Welt, die den Menschen unbekannt und unzugänglich war, blicken und mich dort bewegen?
    »Meinst du, ich kann durch das Feuer in deine Welt gelangen?«, fragte Nate.
    »Das weiß ich nicht«, antwortete ich, »aber du bist mit Sicherheit nicht tot. Das scheint mir so klar zu sein wie die Tatsache, dass wir hier beide fehl am Platz sind. Sieh mich an, Nate. Ich lebe. Trotzdem bin ich hier. Und ich bin nicht aus Asche. Genauso wenig wie du. Außerdem haben wir beide Farbe an uns, wir sind die einzigen echten Farbkleckse in dieser Welt. Bist du sicher, dass du hier noch nie jemanden wie uns gesehen hast?«
    Irgendwo ganz hinten in seinen Augen nahm ich ein düsteres Flackern wahr. Ich fragte mich, ob ich etwas gesagt hatte, das ihn verstört haben könnte.
    »Entschuldige«, sagte ich, ohne zu wissen, warum. »Es ist nur so, dass diese Aschemenschen ganz offensichtlich hier gelandet sind, weil sie verbrannt wurden. Vielleicht sind es verdammte Seelen oder so, aber du …«
    Nate unterbrach mich mit zusammengekniffenen Augen.
    »Diese Wesen waren früher Menschen«, seufzte er betrübt. »Sie kamen voller Schrecken von den Dünen, ohne zu wissen, woher sie stammten und was sie hierhergeführt hat. Genauso war es bei mir.«
    »Bei mir nicht«, rutschte es mir heraus, aber ich wollte Nates Schilderung nicht unterbrechen.
    »Sie haben angefangen, die Hoffnung zu verlieren, sich sterben zu lassen. Sie waren

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