Ascheträume
zurückgezogen, um niemandem etwas anzutun. Er war rührend. Er hatte alle vergessen, und alle hatten ihn vergessen.
Nach den ersten hundert Seiten machte ich eine Pause. Die Geschichte hatte mich gepackt, aber ich wollte das Buch nicht in einem einzigen Zug auslesen. Außerdem, wie spät war es jetzt?
Ich sah auf das Display meines Handys.
Schon sieben Uhr abends. Deshalb also fühlte ich mich so fit – draußen brach die Dämmerung herein.
Meine Augen, angezogen von der Farbe der Iris, wanderten zu den Blumen. Ich lächelte. Ich hatte Lust, mit jemandem über das zu reden, was mir widerfuhr.
Über mir waren Zweige.
Und von den Zweigen fiel Asche wie Blütenstaub, der nie eine Blume zum Knospen bringen würde. Ich senkte die Lider, damit mir der feine Staub nicht in die Augen drang.
Das große Loch im Himmel schien düstere Prophezeiungen zu uns herunterzuflüstern.
Ich setzte mich auf. Ausnahmsweise wusste ich, wo ich mich befand. Bislang war ich davon ausgegangen, dass es keine Regel dafür gab, wo ich auftauchte, nun aber glaubte ich langsam, dass es entweder mit dem Ort, an dem ich zuletzt gewesen war, zu tun haben musste, oder mit Nates Nähe.
Ich zog mich an den krummen Wurzeln hoch. Die Bäume vor mir sahen aus wie Tempelsäulen. Ich ging zwischen den Stämmen hindurch und blickte in die Baumkronen. Der Wald war nicht übermäßig groß, und es durfte nicht allzu schwierig sein, das Baumhaus wiederzufinden.
Irgendwann fand ich es, aber meine Aufmerksamkeit galt eher dem Papierdrachen, der am Fuß des Baumes lag. Vielleicht hatte Nate versucht, ihn steigen zu lassen.
Ich trat näher und sah, dass mein Name auf der Plane stand. Ich lächelte. Das hieß wohl, dass Nate sich nicht nur daran erinnert hatte, wie man las, sondern auch, wie man schrieb.
Energisch umfasste ich die Sprossen der Leiter und stieg zu der Falltür hinauf. Ich klopfte, um Nate nicht zu erschrecken, der sehr wahrscheinlich dort oben saß und las.
Als ich keine Antwort bekam, beschloss ich einzutreten.
Das Baumhaus war leer. Ich achtete darauf, mich nicht ganz aufzurichten, die Decke war niedrig, und ich musste mich gebückt bewegen, wenn ich mir den Kopf nicht anstoßen wollte.
Auf dem Boden lag das Buch von Peter Pan. Ich hob es auf und war gerührt, als ich sah, auf welcher Seite es aufgeschlagen war: Genau bei jenem Kapitel, in dem erzählt wird, wie ein Papierdrache Wendy das Leben rettete. Ein Satz, der mir besonders gefiel, war unterstrichen: Sterben ist bestimmt ein furchtbar großes Abenteuer.
Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Hinter mir am Fenster tauchte Nate auf, genau wie Peter Pan.
»He!«, sagte er heiter. »Willst du meinen Schatten wieder annähen?«
Ich lächelte ein wenig verstimmt wegen des Schreckens, denn er mir eingejagt hatte.
»Ich versuch’s mit deinen Erinnerungen.«
Nate sprang herein und nahm mir sanft das Buch aus der Hand. Er blätterte ein paar Seiten um.
»Sag nicht, dass dir das nicht irgendwie bekannt vorkommt …«
Er las: »›Er muss angenäht werden‹, erklärte sie. … ›Was ist angenäht?‹, fragte er. ›Du bist aber furchtbar ungebildet.‹ ›Nein, bin ich nicht.‹ Aber sie genoss seine Unwissenheit.«
Mit einer gewissen Genugtuung sah Nate mich an. Ich musste mich geschlagen geben.
»Ja, stimmt ja auch …«
Wir lachten, dann wurde er wieder ernst, er lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme.
»Weißt du«, sagte ich, »auch ich lese gerade ein Buch. Ich bin mir fast sicher, dass mein Vater es geschrieben hat.«
»Warum fast ?«, fragte er.
Ich zuckte mit den Schultern.
»Ich habe ihn nie kennengelernt, er ist gestorben, als ich klein war«, antwortete ich und versuchte, nicht traurig zu werden.
Dafür verdunkelte sich Nates Miene.
»Wer weiß, wer meine Eltern waren? Wer weiß, ob ich überhaupt je welche hatte?«
Ich seufzte betrübt. Ich sagte das Einzige, was man in einer solchen Situation sagen konnte: »Ich bin mir ganz sicher, dass du welche hattest und dass sie dich geliebt haben.«
Er betrachtete mich mit einer Miene, die ich nicht entschlüsseln konnte.
»Weißt du, was ich herausgefunden habe?«, sagte er dann und machte gleich wieder ein anderes Gesicht.
»Dieser Baum ist hohl, genau wie der Baum der Verlorenen Jungen.«
»Offenbar war der Erbauer dieses Baumhauses ein echter Peter-Pan-Fan!«, meinte ich.
Ich ging zu ihm. Nate rührte sich nicht, doch seine Augen sprühten Farben. Sie waren wie eine Sonne, die nur für
Weitere Kostenlose Bücher