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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Temporin
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Fast gleichzeitig ahnten wir, dass ein Mann hinter der Verkaufstheke stand. Auf dem Tresen lagen so viele Bücher, dass man kaum seine Haare sehen konnte.
    Der Ladeninhaber ging um die Theke herum und kam zu uns herüber. Er sah aus, als sei er fast blind, so dick waren seine Brillengläser.
    »Wenn ich behilflich sein kann …«, sagte er und streckte seine knochige Hand aus.
    Schnell nahm ich meinen Zettel, bevor er auf die Idee kommen konnte, nach meiner Hand zu greifen.
    Der Mann schob die Brille auf seiner krummen Nase ein wenig herunter.
    »Ray Pitbury …«
    Er schien sich die Worte wie etwas besonders Köstliches auf der Zunge zergehen zu lassen. »Aber sicherlich. Hatten Sie an etwas Bestimmtes gedacht? Ich habe alle seine Werke.«
    Erfreut sahen Christine und ich uns an.
    Der Mann lief zwischen den Regalen voraus, die sich unter dem enormen Gewicht der Bücher gefährlich nach vorne neigten. Sie sahen aus, als würden sie jeden Moment auf uns herabstürzen.
    Dann blieb er stehen, nahm eine Bockleiter und wollte sie aufklappen. Mit seinen schmächtigen Armen schaffte er es nicht, und so griff Christine ein.
    »Ich mach das«, sagte sie, nahm die Leiter und klappte sie mit einem Handgriff auseinander.
    Der Buchhändler lächelte und entblößte dabei drei Silberzähne.
    Er stellte die Leiter unter ein Regal und zeigte uns, auf welchem Brett wir nachsehen mussten.
    »Dort oben stehen sie alle.«
    Ich stieg die drei Sprossen hinauf und stand vor einer verstaubten Reihe Bücher. Ich wischte mit der Hand darüber, und nach und nach erschienen Titel wie Saturianische Chroniken, 233 Grad Celsius, Aprilland und andere. Viele andere. Pitbury schien ein sehr produktiver Autor gewesen zu sein.
    Ein Titel stach mir besonders ins Auge: Alle Farben der Dunkelheit.
    Vorsichtig nahm ich das Buch in die Hand. Der Umschlag war schwarz und golden, früher einmal musste eine Figur dort aufgeprägt gewesen sein.
    Ich schlug es auf und las den Klappentext, eine Art surreale Autobiografie.
    Da stand: Ray Pitburys letzter Roman, bevor er sich von der Schriftstellerei zurückgezogen hat. Die fiktive, wahre Geschichte eines Mannes, der sich mit einer seiner Romanfiguren anfreundet. Noch nie zuvor hat jemand seinen eigenen Tod so packend geschildert.
    Das klang interessant, selbst wenn die wahre Geschichte fiktiv war. Vielleicht erfuhr ich in diesem Buch etwas mehr über diesen Ray Pitbury, der – entgegen Rickies Behauptung – wahrscheinlich mein Vater war.
    Auch wenn er keine komischen Augen hatte, so hatte er zumindest komische Ideen.
    Ich stieg mit dem alten Buch von der Leiter herab.
    »Sehr gute Wahl!«, sagte der Buchhändler und rieb sich die Hände.
    Christine spickte auf den Titel, und nach dem Laut zu urteilen, den sie dabei ausstieß, schien sie meine Entscheidung zu billigen.
    Ich bezahlte meine Errungenschaft, und der kleine Mann packte sie zuvorkommend und sorgfältig in eine alte Zeitung ein.
    Ich traute mich nicht, ihm zu sagen, dass das nicht nötig sei. Wahrscheinlich war ich die einzige Kundin in der ganzen Woche oder im ganzen Monat, und so erschien es mir nur recht und billig, ihm diese kleine Freude zu lassen.
    »Entschuldigen Sie«, sagte ich, um ein wenig zu plaudern, »wissen Sie, ob Ray Pitbury noch lebt?«
    Die Augen des Buchhändlers, stark vergrößert hinter den Brillengläsern, starrten mich an.
    »O nein, meine Liebe, Ray Pitbury ist leider schon seit etlichen Jahren tot«, sagte er seufzend. »Schriftsteller wie ihn gibt es heute leider nicht mehr. Das Buch, das Sie ausgesucht haben, war sein letztes. Er schreibt darin über sein Leben und sogar über seinen Tod … Als hätte er es geahnt, dass der schwarze Engel auf dem Weg zu ihm war.«
    Für einen kurzen Augenblick hatte ich törichterweise tatsächlich gehofft, dass der Klappentext log und ich den Autor treffen konnte.
    Ich nahm das Buch und versicherte dem Mann, dass ich bald zurückkommen und weitere Bücher kaufen würde.
    »Wenn er dann noch lebt …«, meinte Christine leise, als sie die Tür öffnete.
    Ich bedankte mich bei ihr, dass sie mich begleitet hatte und sagte dann, dass ich nach Hause gehen und allein sein wollte.
    Ich war müde, richtig müde, und außerdem hatte ich ein Buch, das ich lesen wollte. Einen Vater, über den ich lesen wollte.
    »Sehen wir uns heute Abend?«, fragte sie, bevor sie sich zum Gehen wandte.
    »Nein, entschuldige mich bei Leo, wir sehen uns morgen in der Schule.«
    Christine zuckte mit den Schultern, aber

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