Ascheträume
im Grunde ihres Herzens verstand sie mich.
Sie küsste mich auf die Stirn und sagte, ich solle keinen Blödsinn machen. Ich versprach ihr, ein liebes Mädchen zu sein.
Ich ging nicht nach Hause.
Ich hatte gelogen. Mehr oder weniger. Ich wollte allein sein und lesen, das war wahr. Aber ich hatte Christine verschwiegen, dass ich dafür ins alte Kino gehen würde. Im Grunde hatte sie es herausgefordert: Ihre Skepsis gegenüber dem Cinerarium hatte mich wie ein feindseliger Wind dazu angetrieben, mein Verhalten zu ändern.
Ich machte bei einem Blumengeschäft halt und kaufte ein paar Iris. Später würde ich eine weitere Reise in die Aschewelt unternehmen. Mittlerweile dachte ich mit einer Selbstverständlichkeit darüber nach, als würde ich abends ausgehen.
An der Hintertür des Kinos holte ich die Schlüssel hervor. Es gab wenig Licht, aber ich behalf mir mit dem Display meines Handys.
Ich nahm das Vorhängeschloss ab, löste die Kette und drückte die Türklinke herunter. Dabei hoffte ich, dass ich keinen Alarm auslösen würde. Aber es war nichts zu hören außer den Kristallen des großen Lüsters, die in der Dunkelheit vibrierten.
Ich tastete mich an der Wand entlang und versuchte, mich zu erinnern, wo die Lichtschalter gewesen waren. Als ich sie fand, drückte ich die Hebel nach oben.
Auf einen Schlag erwachte das Kino wie in einem künstlichen Morgengrauen, und ich kam mir ungeheuer wichtig vor.
Ein ganzes Kino für mich allein.
Mit dem Gefühl, alle Zeit und allen Raum der Welt zu haben, schlängelte ich mich durch die Sitzreihen hindurch in die Mitte des Saals.
Ich zählte die Sitze rechts von mir: fünfzehn.
Ich zählte die Sitze links von mir: fünfzehn.
Ich lehnte mich zurück.
Popcorn hatte ich keins, also musste ich mich mit einer halben Thermoskanne Kaffee begnügen. Ich nahm sie und stellte sie neben mich zu den Iris.
Dann nahm ich das Buch aus der Plastiktüte.
Ich packte es aus.
Ein bedeutender Augenblick.
Ich ließ die Verpackung fallen und betrachtete das schwarze Buch mit dem Goldrand.
Die Seiten waren ein wenig verklebt und eselsohrig. Ich schlug sie ganz vorsichtig auf. Ein Schauder durchfuhr mich, als hätte ich den Schlüssel einer Tür gedreht, die ich niemals hätte öffnen dürfen.
Zu der echten, wahren Geschichte führte mich Oscar Wilde mit dem Motto: Wer mehr als ein Leben lebt, muss mehr als einen Tod sterben.
Ich schluckte und blätterte um.
Vorwort: »Dies ist ein Märchen … Und wie jedes Märchen auch eine Schauergeschichte. Es spielt keine Rolle, für welches der beiden Genres man sich entscheidet; ich denke, beide kann man mit einem Schloss beginnen lassen …«
Ich vertiefte mich ins Buch.
Die Geschichte handelte von Ray, einem Schriftsteller, der jahrelang auf einem Boot gelebt hatte und zufällig am See von Gorey gelandet war.
Was für eine seltsame Vorstellung, dass ich erst gestern dort gewesen war!
Der See war voller toter Kühe, und keiner wusste, warum. Ray hatte beschlossen, dort haltzumachen, und während seines Aufenthalts erblickte er auf einer der vielen Hügelkuppen ein Schloss.
Dann hatte ich mich also nicht geirrt! Am See von Gorey gab es ein Schloss.
Er machte es ausfindig und betrat es. Es war nur noch eine alte Ruine, aber darin entdeckte er etwas sehr Merkwürdiges. Etwas sehr viel Erschreckenderes als einen Haufen Würmer. Er fand einen Vampir, ein unsterbliches Wesen.
Vampire, stand in dem Buch, waren Früchte der Angst vor dem Tod, und um ihm zu entkommen, konnten sie ihren Alterungsprozess stoppen.
Der Vampir, der in dem Schloss lebte, war ein großer, hagerer, kahler Mann mit melancholischem Blick.
Er hieß Kolor.
Ich fuhr zusammen. Mir fiel das Foto wieder ein, das ich in dem Haus am See gesehen hatte.
Dann las ich weiter.
Der Autor freundete sich eng mit dem Vampir an und überredete ihn, mit ihm in die Stadt zurückzukehren. Dort besaß er ein altes Haus, in dem er schon lange nicht mehr wohnte …
Charles’ Villa!, dachte ich wie elektrisiert. Die alte Villa, die aus der Asche auferstanden war! Genauso nannte Ray sie in seinem Buch. Die Geschichte versprach, interessant zu werden.
Nach ein paar Seiten tauchte dann auch tatsächlich Charles als junger Mann auf! Ich konnte es nicht fassen, es war vollkommen verrückt. Ich musste lachen. Und dieser Vampir … Er war nicht böse, er hatte vielmehr beschlossen, gegen seine Natur auf Menschenfleisch und -blut zu verzichten. Er hatte sich auf das Schloss von Gorey
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