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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Temporin
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mich schien.
    »Ich frage dich jetzt nicht, was ›Fan‹ bedeutet«, sagte er und zeigte seine Grübchen. »Allerdings gibt es da einen Abschnitt im Buch, den ich nicht richtig verstanden habe.«
    »Welchen?«
    Er schlug das Buch wieder auf.
    Ein wenig Asche fiel von den Seiten. Er ging mit einer solchen Selbstverständlichkeit mit dem Buch um, dass ich davon ausging, dass er es mindestens zehnmal gelesen hatte.
    »Der hier.« Er las vor: »›Ganz sicher weißt du doch, was ein Kuss ist?‹, fragte sie verblüfft. ›Ich weiß es, wenn du ihn mir gegeben hast‹, erwiderte er steif, und um ihn nicht zu kränken, gab sie ihm einen Fingerhut. ›Soll ich dir jetzt mal einen Kuss geben?‹, fragte er, und sie erwiderte etwas geziert: ›Wenn du möchtest.‹ Sie hielt ihm sogar das Gesicht hin, aber er legte nur eine Eichel in ihre Hand.«
    Nate schlug das Buch wieder zu.
    »Was hast du daran nicht verstanden?«, fragte ich und neigte misstrauisch den Kopf.
    »Ein Kuss ist keine Eichel und auch kein Fingerhut, oder?«, fragte er ernst.
    Ich wurde nervös.
    »Machst du Witze?«
    »Witze …«, wiederholte er zweifelnd.
    »Okay«, sagte ich schließlich und streckte die Hände aus, »du willst wissen, was ein Kuss ist?«
    Noch immer wusste ich nicht, ob er mich veräppeln wollte oder ob er es ernst meinte.
    Meine Verlegenheit musste offensichtlich gewesen sein, denn ich glaubte zu bemerken, dass Nate sich amüsierte. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht wartete er nur auf eine Erklärung. Es war aber auch wirklich kompliziert, die richtigen Worte zu finden! Wie sollte ich ihm so mir nichts dir nichts erklären, was ein Kuss ist?
    »Also, ein Kuss … ein Kuss ist, wenn zwei Personen … nun«, murmelte ich, »wenn zwei Personen, die sich mögen, ihre Lippen aufeinanderlegen und …«
    »Die Lippen aufeinanderlegen?«, unterbrach mich Nate, als hätte ich etwas völlig Abwegiges gesagt.
    »Ja«, fuhr ich fort und mein Herz klopfte schneller. »Sie pressen sie mit einem gewissen Druck aufeinander.«
    Nate sah mich verständnislos an, wahrscheinlich fragte er sich, warum ich so aufgeregt war. Bestimmt wusste er noch nicht mal, was das Wort Liebe bedeutete.
    »Ich verstehe immer noch nicht«, sagte er. »Warum sollten zwei Menschen so etwas tun?«
    Ich riss die Augen auf, vielleicht damit mehr Licht auf meine Gedanken fiel.
    »Na, damit sie sich wohlfühlen.«
    »Ist das wie ›Spaß haben‹?«, fragte Nate in Erinnerung an den Papierdrachen.
    »Nein, es ist anders.«
    »Wie anders?«, fragte er und sah mir ins Gesicht.
    »Anders eben …«, flüsterte ich und verlor mich in der Betrachtung seines Gesichts.
    Es war so fein und sanft. So sinnlich. Jeder Zentimeter seiner hellen, glatten Haut schien mich zu bitten, sie zu berühren.
    Seine Lippen bewegten sich langsam.
    »Kannst du mir einen Kuss geben?«, fragte er ganz leise. »So könnte ich es verstehen …«
    Er hatte mich allen Ernstes darum gebeten! Er hatte mich gebeten, ihn zu küssen.
    Vor lauter Herzklopfen war ich ganz benommen. Ich wollte den Blick abwenden und nach einer Antwort suchen, aber seine Wangenknochen waren schon zu nah. Ich wusste nicht, ob ich ihn wirklich küssen wollte. Ob seine Bitte einem echten Gefühl entsprang, oder ob es nur Neugier war. So oder so wusste ich nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so ablaufen würde. Es war zu viel. Im Grund hatte ich überhaupt nicht damit gerechnet, dass es passieren würde.
    Und es passierte auch nicht.
    Hinter Nate konnte ich eine Bewegung erahnen. Durch das Fensterchen sah ich eine Gestalt durch den Wald schleichen. Nate merkte, dass ich abgelenkt war, und drehte sich um.
    »Was ist los, Thara?«, fragte er und spähte zwischen den Bäumen hindurch.
    »Ich habe ein kleines Mädchen gesehen«, sagte ich leise.
    »Das ist nicht möglich«, kicherte Nate. »Du musst dich getäuscht haben.«
    »Ich schwöre dir, ich habe es genau gesehen!«, sagte ich und die Spannung von vorher ließ mich ein wenig gereizt klingen.
    Ich merkte, dass Nate mir nicht glaubte, aber er beugte sich dennoch aus dem Fenster, um mir einen Gefallen zu tun. Ich stellte mich hinter ihn und lugte ihm über die Schulter. Ich spürte, wie er zusammenfuhr.
    Dort unten, unter unserer Zuflucht, lag ein kleiner Gegenstand.
    Nate sah mich wortlos an. Ich zog die Augenbrauen hoch, um ihm zu zeigen, dass er mich besser ernst nehmen sollte, wenn ich etwas sagte.
    Schnell stiegen wir die schmale Leiter

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