Asharas Rückkehr - 19
trainierte. Dann betrachtete sie den starken, aufrechten Rücken ihres Vaters. Wenn ihr Vater ein Telepath sein konnte, dann konnte sie es auch. Als hätte er sie gehört, drehte er sich auf seinem Pferd um und schenkte ihr ein derart aufmunterndes Lächeln, dass sie nur mit Mühe die Tränen zurückhielt. Warum, dachte sie zornig, hatte er nicht früher so sein können, als sie ein junges Mädchen war.
Mittags machten die Reisenden in einem kleinen Gasthaus Halt. Der Wirt, ein dicker Mann in den Fünfzigern, grüßte Lew Alton freundlich, aber mit einer Ehrerbietung, bei der sich Margaret krümmte. Während sie frisches Brot, Käse und Obst aß, fragte sie sich, ob es ihr je gelingen würde, sich wie eine Adlige, eine Comynara, zu fühlen. Sie hatte so lange in der relativ demokratischen Umgebung der Universität gelebt - wo man sich durch Verdienste Achtung erwarb, nicht durch Geburt -, dass sie dieses feudale Gehabe unangenehm fand. Nach dem Mittagessen setzten sie ihre Reise fort, und je weiter sie sich von Armida entfernten, desto gelöster wurde Margaret. Rafaella wies sie auf verschiedene Sehenswürdigkeit hin, ermüdete sie jedoch nicht mit endlosem Geplapper, so dass Margaret den Ritt genießen und ihren Gedanken nachhängen konnte. Es war das erste Mal seit Tagen, dass sie ein wenig Ruhe hatte, und sie kostete es aus. Selbst Mikhail schien zu bemerken, dass sie Ruhe brauchte, und trieb sein Pferd an, bis er die anderen Männer eingeholt hatte. Margaret blickte auf die drei starken Rücken - auf drei Generationen darkovanischer Männer und war zum ersten Mal in ihrem Leben stolz auf ihre Herkunft. Gegen Ende des Nachmittags kamen sie an einen See, der groß und ein wenig dunstig im milden Sonnenlicht lag. Es kam ihr merkwürdig vor, dass es an einem so schönen Tag Dunst gab, und sie richtete sich in den Steigbügeln auf, um
besser sehen zu können. In der Ferne leuchtete ein hoher weißer Turm, dessen Steine von der Sonne ausgebleicht waren. Er ähnelte sehr den Türmen in der Oberwelt, nur dass er solider und echter aussah.
»Ist das Arilinn, Onkel Jeff? Wo du wohnst?« Sie deutete auf das Gebäude.
Jeff schaute sie überrascht an. »Was?« Er blickte in die Richtung, in die sie zeigte. »Was siehst du, Marguerida?«
»Ich sehe einen Turm, er sieht aus wie die Türme in der Oberwelt. Ist das Arilinn?«
»Nein, Chiya. Das hier ist der Hali-See, und dort drüben stand der Hali- Turm.«
»Ach so. Von dem habe ich noch nie gehört. Halt, Moment mal Istvana sagte, dass Ashara Bewahrerin im Hali-Turm war. Siehst du ihn nicht?« Der bloße Name ihrer toten Peinigerin ließ sie erschaudern, und das Atmen fiel ihr schwer.
Er schüttelte den Kopf. »Der Hali-Turm wurde vor tausend Jahren oder mehr zerstört, in einem Krieg während des Zeitalters des Chaos. Er wurde nie wieder aufgebaut, ich weiß allerdings nicht, warum.« »Aber ich sehe ihn so deutlich wie die Hand vor meinem Gesicht.« Ihre Stimme war schrill, und das Blut schien ihr zu gefrieren. Sie hätte sich gern abgewandt, aber es gelang ihr nicht. Der Turm war wunderschön, und er schien Margaret zu rufen. Doch es war wie der Lockruf einer Sirene und erschreckte sie bis ins Mark.
»Ich bin überzeugt, dass du ihn siehst, aber ich versichere dir, dort ist nichts, außer einer Ruine. Es ist eine Art Mahnmal für diesen Krieg. Man könnte sagen, du siehst den Geist eines Turmes«, fügte er leichthin an, aber Margaret spürte, dass er beunruhigt war. Trotz der wärmenden Sonne fror sie am ganzen Körper und zitterte. Sie nahm den Turm deutlich wahr, und er sah sehr
wirklich und solide und äußerst normal aus. »Was würde passieren, wenn ich hingehe und an die Tür klopfen würde?«
Jeff sah sie lange entsetzt und schweigend an. »Ich weiß es nicht, und ich glaube nicht, dass ich es herausfinden will. Dass du Hali siehst, ist beunruhigend genug, du brauchst nicht auch noch den Türklopfer zu betätigen, Marguerida. Ich würde davon abraten.«
»Aber was würde geschehen?« Margaret spürte, wie unter ihrem Handschuh das Flechtwerk auf ihrer linken Hand zu pulsieren begann, und hatte das Gefühl, von einem Dämon der Neugier besessen zu sein. Schlimmer noch, es war fast wie ein Zwang, und sie fragte sich, ob Ashara irgendwie eine weitere Falle für sie aufgestellt hatte. »Meines Wissens haben auch andere Leute Hali gelegentlich gesehen, aber niemand hat je versucht, den Geisterturm zu betreten, deshalb weiß ich einfach nicht, was passieren würde.« Jeff
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