Ashes, Band 02: Tödliche Schatten (German Edition)
»Das hab ich mir gedacht. Manchmal wache ich auf und weiß, dass ich gesprochen habe.«
»Jeder hat mal Albträume, Lena.«
»Nicht solche wie ich.«
Er dachte an den grauenhaften Morgen, als er acht gewesen war und die Treppe hinuntergegangen war, aber unten kein Frühstück vorfand, nur seinen Vater, der am Tisch saß und abwechselnd an seinen blutigen Knöcheln und einer Flasche Bourbon nuckelte. Auch Deidre, die damalige Freundin seines Vaters, war nicht da gewesen. »Da wäre ich mir nicht so sicher.«
»Träumst du von Sachen, du weißt schon, von früher?«
O ja, die Albträume hatten schon einige Zeit vor dem Weltuntergang angefangen. Seine Träume waren grausam, gewalttätig und ziemlich laut: Schreie und das Flehen einer Frau – und dann ein irrer rhythmischer Lärm, der hohl und dumpf anfing und sich dann steigerte, bis er immer feuchter und fleischiger klang und sich schließlich anhörte, als würde jemand mit einer Keule auf eine überreife Melone einschlagen.
»Meine Träume von früher sind nicht so toll«, sagte er.
»Meine auch nicht. Wahrscheinlich träume ich deswegen immer schlecht, weil es schlecht war. Ist das nicht gruselig? Ich meine, die Welt fährt zur Hölle, die Jugendlichen werden zu Ungeheuern – aber mein Leben war vorher auch nicht gerade super.«
So hatte er das noch nie betrachtet, aber sie hatte recht. Die kurze Zeit in Rule war das einzig Gute, was ihm in den letzten Jahren passiert war. Peter und er hatten sich auf Anhieb verstanden. Jetzt, da er darüber nachdachte, fiel ihm ein, dass Peter bei ihrer ersten Begegnung nach einer Art anfänglichem Schock ausgesehen hatte, als würde er sich, na ja, freuen. Er gab Chris das Gefühl, als sei er endlich daheim angekommen. Brüder hätten sich nicht näher stehen können. »Weißt du, was wirklich verrückt ist? Ich bin noch nie vorher so glücklich gewesen wie in Rule.«
»Das kann ich von mir nicht behaupten«, sagte sie. »Warum fragst du eigentlich nie, wie mein Leben früher war? Bei den Amish People?«
Weil er wusste, dass sie nichts Gutes zu berichten hatte und er genug eigene dunkle Erinnerungen mit sich herumschleppte? »Keine Ahnung. Weil’s mich nichts angeht? Außerdem warst du ja … mit Peter zusammen? Ich hab mir gedacht, dass du es ihm erzählt hast.«
»Etwas, ein bisschen was, aber nicht viel.« Sie lachte leise. »Ich bin, na ja, total verliebt in den Kerl, und er hat mich nie gefragt, was eine Heidin wie ich eigentlich bei den Amish People verloren hat. Ich wollte es einfach nur vergessen.«
Ihm war klar, dass sie es ihm erzählen wollte. »Also, warum warst du dort?«
»Meine Mom war ein Junkie«, erklärte sie in sachlichem Ton. »Die ganze Palette: Crystal Meth und Kokain zum Aufputschen, Alkohol zur Beruhigung. Sie hat mindestens zehnmal eine Entziehungskur gemacht, blöderweise hat sie jedes Mal abgebrochen. Vermutlich hat sie gedacht, wenn sie zu den Amish People geht, wird sie garantiert clean, also hat sie diesen sabbernden Perversling Brecher-Karl geheiratet.«
Karl – das murmelte sie im Schlaf. »Was für ein Name ist das denn?«
»Sein Spitzname. Fast jeder Amish hat einen, so wie Schweine-John, den sie so nannten, weil er Schweine gezüchtet hat. Brecher-Karl hat in einem Steinbruch gearbeitet, und er hatte riesige Hände. Ein absolutes Arschloch, aber meine Mom hat ihn trotzdem geheiratet. Mein Bruder und ich hatten da nichts mitzureden.«
»Ziemlicher Mist.«
»Das kann man wohl sagen. Weißt du eigentlich, dass die Amish ihre Kinder nur bis zur achten Klasse in die Schule schicken? Ich bin immer wieder weggelaufen, einfach so oft wie möglich zu Fuß die acht Kilometer bis zur nächsten Bushaltestelle, weil ich in die Schule wollte. Kannst du dir das vorstellen? Karl hat mich immer wieder eingefangen und in die Scheune gesperrt. Irgendwann hat ihm der Bischof gesagt, er solle mich einfach in Ruhe lassen. Aber der alte Scheißkerl hat es mich büßen lassen. Er hat mich mit der Reitpeitsche geschlagen, die er für die Kutschpferde bereithielt. Klar, dass meine Mom das gewusst hat, aber sie hat es nur dem Bischof gesagt, und der wollte nicht, dass die ›Engländer‹ sich einmischen«, sie ahmte einen derben deutschen Akzent nach und schnaubte. »Arschloch.«
Das alles wollte Chris lieber nicht so genau wissen, aber er hatte keine Ahnung, wie er sie dazu bringen sollte aufzuhören. »Das tut mir leid.«
»Ach, am Ende war er derjenige, dem es leidtat. Weißt du, was ich
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