Ashes, Band 02: Tödliche Schatten (German Edition)
abgehärmt, und seine Wangen waren eingefallen. »Auch wenn wir es bis zum Wald schaffen, ist die Sonne weg, bevor wir ein Lager aufgeschlagen haben.«
»Bleiben wir hier«, wiederholte Lena. »Wahrscheinlich war er allein. Vielleicht ist das ja das Privatdepot von diesem Jungen gewesen. Wenn es andere gäbe, wären sie doch schon rausgekommen. Anscheinend war seit mindestens zwei Tagen keiner mehr hierher unterwegs. Wir können uns doch irgendwo im ersten Stock verbarrikadieren. Wenn wir die Leiche verstecken und die Pferde mit reinnehmen, merkt vielleicht niemand, dass wir hier sind.«
Das waren gute Argumente. Chris’ Blick fiel wieder auf den toten Jungen. Der Veränderte war jung, höchstens dreizehn, und er sah gesund aus – abgesehen davon, dass er tot war. Er war auch dem Wetter angemessen gekleidet. Chris studierte das Gesicht des Jungen, dessen Kinn noch kindliche Rundungen hatte. Anscheinend hat er sich gut verpflegt. Vielleicht hat er ja wirklich nur sein Depot verteidigt. Aber er musste doch wissen, dass wir ihm das nicht wegnehmen würden. Und die Einzige, auf die er losgegangen ist, war –
»Chris«, unterbrach Lena seine Überlegungen.
»Eine Sekunde.« Der Junge hat sich Lena ausgesucht. Er hätte sich auch auf Nathan oder mich stürzen können. Er hätte uns in Ruhe lassen können. Aber er musste sie angreifen – und hat dabei sein Leben riskiert.
Mein Gott, die Richtung, die seine Gedanken einschlugen, gefiel ihm überhaupt nicht. Und es könnte ja auch sein, dass es nichts dergleichen war. Aber ihm fiel eine Möglichkeit ein, wie er das überprüfen konnte.
»Schön.« Er atmete tief aus. »Ich bin dafür, dass wir bleiben. Nathan, im ersten Stock gibt es direkt über uns ein Eckzimmer mit Fenstern nach Osten und Norden und schräg gegenüber eins mit Blick nach Süden und Westen. Von da aus müssten wir sehen, wenn was kommt.« Er beugte sich über den toten Jungen und fasste ihn unter den Achseln. »Lena, schaffen wir ihn weg und verdecken dann das Blut.«
Lena sah so begeistert aus, als hätte er sie gebeten, Hundekot aufzuheben, aber sie nickte. »Es passiert schon nichts«, sagte er und packte den Jungen an den Knöcheln. »Gefährlicher als im Wald kann es hier auch nicht sein.«
Da log er sie zum ersten Mal an.
»Ja«, sagte sie. »Das wohl nicht.«
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Hier.« Lena ließ sich neben ihm nieder und reichte ihm einen dampfenden Aluminiumbecher. »Ich hab dir Tee gemacht.«
»Danke«, sagte er gelinde überrascht. Er hatte sie und Nathan im Nebenraum, dem einstigen Chemiesaal, zurückgelassen, als er in dem Eckzimmer Wachposten bezog. Zwar lag der Raum im Windschatten, trotzdem hatten sie die Tür für alle Fälle rundum mit Klebeband abgedichtet. Die Pferde waren in der Turnhalle untergebracht, weil die keine Fenster hatte und der eine Eingang leichter abzuriegeln war. Sie würden zwar einige Pferdeäpfel auf dem Basketballfeld hinterlassen, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass sich darüber noch jemand aufregen würde. Er umfasste das heiße Metall mit beiden Händen. Der Tee duftete süß nach Orangen. »Wie kommt’s, dass du wach bist?«
»Ich konnte nicht schlafen. Zu überdreht, und meine Ohren sind kalt. Ich weiß nicht, wo ich meinen Schal gelassen hab. Aber Nathan liegt im Tiefschlaf.« Ihr Gesicht schimmerte im Dunkeln wie mattes Silber. »Tut sich was?«
»Nö.« Seit sechs Stunden war es stockdunkel. Eine schmale Mondsichel verlieh dem Schnee eine grünliche Patina.
»Vielleicht sind sonst keine Veränderten in der Nähe.«
»Das wäre nett.« Er nahm einen kleinen Schluck. Der Tee war zu heiß, schmeckte aber gut. »Wie geht’s dir?«
»Nicht besonders.« Nach einer Pause fügte sie hinzu. »Ich müsste mich mal richtig ausschlafen.«
Und etwas Anständiges essen. »Dann geh wieder ins Bett.«
»Gleich«, sagte sie. »Ich will nicht allein da drinnen sein.«
»Nathan ist da.«
»Du weißt schon, was ich meine. Ich fühle mich besser, wenn ich bei dir bin.«
Unsicher, was er darauf erwidern sollte, schwieg er. Sie saßen noch eine Weile wortlos beisammen, dann fragte sie: »Rede ich im Schlaf?«
»Na ja.« Er pustete auf den Tee und erwiderte vorsichtig: »Manchmal.«
Sie wandte sich ihm zu, aber er hätte ebenso gut versuchen können, den Gesichtsausdruck eines Schattens zu deuten. »Was sage ich dann?«
Um Zeit zu gewinnen, nahm er einen Schluck Tee, mit dem er sich den Gaumen verbrannte. »Nur so Zeug.«
»Hm.« Sie verschränkte die Arme.
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